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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 76. Volksversammlungen und Hoftage.
beruft, und sinken allmählich zur Bedeutungslosigkeit herab. Auch
beruht es meistens auf einer Fiktion, wenn bei solchen Versammlungen
von dem gesamten Volke des Reiches oder Stammes die Rede ist.
Denn selbst wenn die Versammlung Heeresversammlung war, bestand
sie eben nur aus dem Aufgebote des betreffenden Jahres. Nicht
selten liess man das Volk als beteiligt erscheinen, wenn ausser den
Grossen des Reiches oder Stammes noch eine Anzahl von Freien zu-
gegen war, die nicht zu jenen gerechnet wurden. Die Mitregierung,
die einst die Landesgemeinde ausgeübt hatte, beginnen unter veränderten
Verhältnissen die Hoftage zu erwerben, kleinere Versammlungen, zu
welchen der König die Grossen berief, um ihren Rat zu hören. Doch
macht sich diese Entwickelung nicht plötzlich und nicht allenthalben
in gleicher Stärke geltend. Es ist kein Zufall, dass sie zuerst in den
Reichsteilen mit überwiegend romanischer Bevölkerung einsetzt, wo
die Franken verhältnismässig am meisten als Aristokratie vertreten
waren, also ihren Einfluss weit mehr auf Optimatentagen als auf all-
gemeinen Versammlungen ausüben konnten.

An Stelle der alten Völkerschaftskonzilien müssen bei den Fran-
ken ebenso wie bei den Oberdeutschen zunächst umfassendere Ver-
sammlungen, Landes- oder Stammesversammlungen getreten sein.
Ehe Chlodovech sämtliche Franken unter seiner Herrschaft vereinigte,
hatte vermutlich jedes der salischen Königreiche und hatte der Stamm
der Ribuarier ein allgemeines Volksding. Auf solche Versammlungen
weisen die Nachrichten über die ältesten Königswahlen bei den Sa-
liern und über die Abfassung der Lex Salica zurück. In einer
Stammesversammlung der Ribuarier wurde Chlodovech von ihnen zum
König erhoben.

Die alte Landesgemeinde war Heerversammlung gewesen und
hatte als Heerschau gedient. Als bald nach der Reichsgründung die
Romanen zum Heerdienst herangezogen wurden, verlor das Heer die
nationale Geschlossenheit und damit die Fähigkeit, nationales Wollen
geltend zu machen. Unter Chlodovech lebt die alte Volksversamm-
lung formell noch als Heerversammlung fort. Das Heer fasst Be-
schlüsse, die eine Versammlung voraussetzen, in der es seinen Willen
kundgiebt. Sache des Heeres ist die Verteilung der Kriegsbeute 1. Ein
überliefertes Schreiben Chlodovechs nimmt Bezug auf eine Forderung,
die sein Heer hinsichtlich der Freilassung von Gefangenen stellt 2.

1 Greg. Tur. Hist. Franc. II 27. Siehe oben S. 77.
2 Cap. I 1 f.: enunciante fama, quod actum fuerit vel praeceptum omni exer-
citui nostro, priusquam in patria Gotorum ingrederemur .. sic tamen populus noster

§ 76. Volksversammlungen und Hoftage.
beruft, und sinken allmählich zur Bedeutungslosigkeit herab. Auch
beruht es meistens auf einer Fiktion, wenn bei solchen Versammlungen
von dem gesamten Volke des Reiches oder Stammes die Rede ist.
Denn selbst wenn die Versammlung Heeresversammlung war, bestand
sie eben nur aus dem Aufgebote des betreffenden Jahres. Nicht
selten lieſs man das Volk als beteiligt erscheinen, wenn auſser den
Groſsen des Reiches oder Stammes noch eine Anzahl von Freien zu-
gegen war, die nicht zu jenen gerechnet wurden. Die Mitregierung,
die einst die Landesgemeinde ausgeübt hatte, beginnen unter veränderten
Verhältnissen die Hoftage zu erwerben, kleinere Versammlungen, zu
welchen der König die Groſsen berief, um ihren Rat zu hören. Doch
macht sich diese Entwickelung nicht plötzlich und nicht allenthalben
in gleicher Stärke geltend. Es ist kein Zufall, daſs sie zuerst in den
Reichsteilen mit überwiegend romanischer Bevölkerung einsetzt, wo
die Franken verhältnismäſsig am meisten als Aristokratie vertreten
waren, also ihren Einfluſs weit mehr auf Optimatentagen als auf all-
gemeinen Versammlungen ausüben konnten.

An Stelle der alten Völkerschaftskonzilien müssen bei den Fran-
ken ebenso wie bei den Oberdeutschen zunächst umfassendere Ver-
sammlungen, Landes- oder Stammesversammlungen getreten sein.
Ehe Chlodovech sämtliche Franken unter seiner Herrschaft vereinigte,
hatte vermutlich jedes der salischen Königreiche und hatte der Stamm
der Ribuarier ein allgemeines Volksding. Auf solche Versammlungen
weisen die Nachrichten über die ältesten Königswahlen bei den Sa-
liern und über die Abfassung der Lex Salica zurück. In einer
Stammesversammlung der Ribuarier wurde Chlodovech von ihnen zum
König erhoben.

Die alte Landesgemeinde war Heerversammlung gewesen und
hatte als Heerschau gedient. Als bald nach der Reichsgründung die
Romanen zum Heerdienst herangezogen wurden, verlor das Heer die
nationale Geschlossenheit und damit die Fähigkeit, nationales Wollen
geltend zu machen. Unter Chlodovech lebt die alte Volksversamm-
lung formell noch als Heerversammlung fort. Das Heer faſst Be-
schlüsse, die eine Versammlung voraussetzen, in der es seinen Willen
kundgiebt. Sache des Heeres ist die Verteilung der Kriegsbeute 1. Ein
überliefertes Schreiben Chlodovechs nimmt Bezug auf eine Forderung,
die sein Heer hinsichtlich der Freilassung von Gefangenen stellt 2.

1 Greg. Tur. Hist. Franc. II 27. Siehe oben S. 77.
2 Cap. I 1 f.: enunciante fama, quod actum fuerit vel praeceptum omni exer-
citui nostro, priusquam in patria Gotorum ingrederemur .. sic tamen populus noster
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[126/0144] § 76. Volksversammlungen und Hoftage. beruft, und sinken allmählich zur Bedeutungslosigkeit herab. Auch beruht es meistens auf einer Fiktion, wenn bei solchen Versammlungen von dem gesamten Volke des Reiches oder Stammes die Rede ist. Denn selbst wenn die Versammlung Heeresversammlung war, bestand sie eben nur aus dem Aufgebote des betreffenden Jahres. Nicht selten lieſs man das Volk als beteiligt erscheinen, wenn auſser den Groſsen des Reiches oder Stammes noch eine Anzahl von Freien zu- gegen war, die nicht zu jenen gerechnet wurden. Die Mitregierung, die einst die Landesgemeinde ausgeübt hatte, beginnen unter veränderten Verhältnissen die Hoftage zu erwerben, kleinere Versammlungen, zu welchen der König die Groſsen berief, um ihren Rat zu hören. Doch macht sich diese Entwickelung nicht plötzlich und nicht allenthalben in gleicher Stärke geltend. Es ist kein Zufall, daſs sie zuerst in den Reichsteilen mit überwiegend romanischer Bevölkerung einsetzt, wo die Franken verhältnismäſsig am meisten als Aristokratie vertreten waren, also ihren Einfluſs weit mehr auf Optimatentagen als auf all- gemeinen Versammlungen ausüben konnten. An Stelle der alten Völkerschaftskonzilien müssen bei den Fran- ken ebenso wie bei den Oberdeutschen zunächst umfassendere Ver- sammlungen, Landes- oder Stammesversammlungen getreten sein. Ehe Chlodovech sämtliche Franken unter seiner Herrschaft vereinigte, hatte vermutlich jedes der salischen Königreiche und hatte der Stamm der Ribuarier ein allgemeines Volksding. Auf solche Versammlungen weisen die Nachrichten über die ältesten Königswahlen bei den Sa- liern und über die Abfassung der Lex Salica zurück. In einer Stammesversammlung der Ribuarier wurde Chlodovech von ihnen zum König erhoben. Die alte Landesgemeinde war Heerversammlung gewesen und hatte als Heerschau gedient. Als bald nach der Reichsgründung die Romanen zum Heerdienst herangezogen wurden, verlor das Heer die nationale Geschlossenheit und damit die Fähigkeit, nationales Wollen geltend zu machen. Unter Chlodovech lebt die alte Volksversamm- lung formell noch als Heerversammlung fort. Das Heer faſst Be- schlüsse, die eine Versammlung voraussetzen, in der es seinen Willen kundgiebt. Sache des Heeres ist die Verteilung der Kriegsbeute 1. Ein überliefertes Schreiben Chlodovechs nimmt Bezug auf eine Forderung, die sein Heer hinsichtlich der Freilassung von Gefangenen stellt 2. 1 Greg. Tur. Hist. Franc. II 27. Siehe oben S. 77. 2 Cap. I 1 f.: enunciante fama, quod actum fuerit vel praeceptum omni exer- citui nostro, priusquam in patria Gotorum ingrederemur .. sic tamen populus noster

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 126. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/144>, abgerufen am 26.04.2024.