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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 84. Der Gerichtschreiber. Das Amtsgesinde.
zialen die römische Herrschaft so unleidlich machte, dass sie sich
nach dem Regimente der Germanen sehnten.

Es ist eine bezeichnende Erscheinung, dass die römische Organi-
sation des subalternen Ämterwesens der fränkischen Reichsverfassung
vollständig fehlt. Beamtennamen, die dem officium entstammen, fin-
den wir in anderer Bedeutung: so den domesticus, wie zuletzt der
princeps officii genannt wurde, den cancellarius, den commentariensis.
Das fränkische Verwaltungsrecht entbehrt überhaupt ein eigentliches
Subalternbeamtentum. In der Grafschaftsverwaltung ist es ersetzt
durch das Gesinde des Grafen, welches aus pueri, fiskalischen, zum
Teil wohl auch gräflichen Knechten besteht oder aus Freien, die sich
in Privatdienst des Grafen begeben haben. Solche pueri sind die
custodes, lictores 15, satellites oder milites und apparitores 16, die ge-
legentlich in den Quellen der merowingischen Zeit erwähnt werden 17.

Das spätrömische Verwaltungssystem sah sich durch den steigen-
den Einfluss der Subalternen veranlasst, die Verantwortlicheit für die
Verwaltung der Magistratur mehr und mehr den einflussreichsten Offi-
zialen aufzulasten. Das hatte zur Folge, dass sich deren Stellung
zusehends hob und dass man schliesslich bei gewissen Ämtern, um
einen in Wahrheit selbstverantwortlichen Chef zu haben, ihn mit dem
Titel des ursprünglichen Subalternbeamten einsetzte, wie dies in Gal-
lien nach der oben S. 122 f. ausgesprochenen Vermutung bei dem
domesticus des rationalis der Fall gewesen sein dürfte. Die gallo-
fränkische Verwaltung zeigt uns in jenem Punkte das strikte Gegen-
bild der römischen. Sie sucht die Bürgschaften gegen Missbräuche
nicht in der Haftung von Offizialen, sondern mutet dem Beamten die
volle und ungeteilte Verantwortung zu, auch die für sein zum Teil
unfreies Amtsgesinde, das seinerseits nur ihm verantwortlich ist.

Unter den Karolingern werden alle Untergebenen des Grafen
als dessen iuniores oder ministri zusammengefasst. Von den deut-
schen Ausdrücken, die uns für subalterne, im Privatdienst, nach-
mals auch für öffentlich angestellte Organe des Richters begegnen 18,
reichen ahd. putil, butil, ags. bydel 19, der Büttel, und der für die
Alamannen bezeugte Weibel 20 (der Läufer) sicherlich in die fränkische
Zeit zurück. Missus, poto, bote, ags. boda vermag auch einen Diener

15 Wizinari in ahd. Glossen, Graff, Sprachsch. I 1123.
16 Inkneht, dienistman in ahd. Glossen, Graff, Sprachsch. IV 579.
17 Belege bei Waitz, VG II 2, S. 32, Anm. 2; S. 218, Anm. 1, 2.
18 v. Amira, Recht S. 192. Grimm, RA S. 766.
19 Graff III 82; Schmid, Ges. d. Ags. S. 542 zu ahd. piotan, bieten.
20 Siehe oben S. 185, Anm. 35.

§ 84. Der Gerichtschreiber. Das Amtsgesinde.
zialen die römische Herrschaft so unleidlich machte, daſs sie sich
nach dem Regimente der Germanen sehnten.

Es ist eine bezeichnende Erscheinung, daſs die römische Organi-
sation des subalternen Ämterwesens der fränkischen Reichsverfassung
vollständig fehlt. Beamtennamen, die dem officium entstammen, fin-
den wir in anderer Bedeutung: so den domesticus, wie zuletzt der
princeps officii genannt wurde, den cancellarius, den commentariensis.
Das fränkische Verwaltungsrecht entbehrt überhaupt ein eigentliches
Subalternbeamtentum. In der Grafschaftsverwaltung ist es ersetzt
durch das Gesinde des Grafen, welches aus pueri, fiskalischen, zum
Teil wohl auch gräflichen Knechten besteht oder aus Freien, die sich
in Privatdienst des Grafen begeben haben. Solche pueri sind die
custodes, lictores 15, satellites oder milites und apparitores 16, die ge-
legentlich in den Quellen der merowingischen Zeit erwähnt werden 17.

Das spätrömische Verwaltungssystem sah sich durch den steigen-
den Einfluſs der Subalternen veranlaſst, die Verantwortlicheit für die
Verwaltung der Magistratur mehr und mehr den einfluſsreichsten Offi-
zialen aufzulasten. Das hatte zur Folge, daſs sich deren Stellung
zusehends hob und daſs man schlieſslich bei gewissen Ämtern, um
einen in Wahrheit selbstverantwortlichen Chef zu haben, ihn mit dem
Titel des ursprünglichen Subalternbeamten einsetzte, wie dies in Gal-
lien nach der oben S. 122 f. ausgesprochenen Vermutung bei dem
domesticus des rationalis der Fall gewesen sein dürfte. Die gallo-
fränkische Verwaltung zeigt uns in jenem Punkte das strikte Gegen-
bild der römischen. Sie sucht die Bürgschaften gegen Miſsbräuche
nicht in der Haftung von Offizialen, sondern mutet dem Beamten die
volle und ungeteilte Verantwortung zu, auch die für sein zum Teil
unfreies Amtsgesinde, das seinerseits nur ihm verantwortlich ist.

Unter den Karolingern werden alle Untergebenen des Grafen
als dessen iuniores oder ministri zusammengefaſst. Von den deut-
schen Ausdrücken, die uns für subalterne, im Privatdienst, nach-
mals auch für öffentlich angestellte Organe des Richters begegnen 18,
reichen ahd. putil, butil, ags. bydel 19, der Büttel, und der für die
Alamannen bezeugte Weibel 20 (der Läufer) sicherlich in die fränkische
Zeit zurück. Missus, pôto, bôte, ags. boda vermag auch einen Diener

15 Wizinari in ahd. Glossen, Graff, Sprachsch. I 1123.
16 Inkneht, dienistman in ahd. Glossen, Graff, Sprachsch. IV 579.
17 Belege bei Waitz, VG II 2, S. 32, Anm. 2; S. 218, Anm. 1, 2.
18 v. Amira, Recht S. 192. Grimm, RA S. 766.
19 Graff III 82; Schmid, Ges. d. Ags. S. 542 zu ahd. piotan, bieten.
20 Siehe oben S. 185, Anm. 35.
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[188/0206] § 84. Der Gerichtschreiber. Das Amtsgesinde. zialen die römische Herrschaft so unleidlich machte, daſs sie sich nach dem Regimente der Germanen sehnten. Es ist eine bezeichnende Erscheinung, daſs die römische Organi- sation des subalternen Ämterwesens der fränkischen Reichsverfassung vollständig fehlt. Beamtennamen, die dem officium entstammen, fin- den wir in anderer Bedeutung: so den domesticus, wie zuletzt der princeps officii genannt wurde, den cancellarius, den commentariensis. Das fränkische Verwaltungsrecht entbehrt überhaupt ein eigentliches Subalternbeamtentum. In der Grafschaftsverwaltung ist es ersetzt durch das Gesinde des Grafen, welches aus pueri, fiskalischen, zum Teil wohl auch gräflichen Knechten besteht oder aus Freien, die sich in Privatdienst des Grafen begeben haben. Solche pueri sind die custodes, lictores 15, satellites oder milites und apparitores 16, die ge- legentlich in den Quellen der merowingischen Zeit erwähnt werden 17. Das spätrömische Verwaltungssystem sah sich durch den steigen- den Einfluſs der Subalternen veranlaſst, die Verantwortlicheit für die Verwaltung der Magistratur mehr und mehr den einfluſsreichsten Offi- zialen aufzulasten. Das hatte zur Folge, daſs sich deren Stellung zusehends hob und daſs man schlieſslich bei gewissen Ämtern, um einen in Wahrheit selbstverantwortlichen Chef zu haben, ihn mit dem Titel des ursprünglichen Subalternbeamten einsetzte, wie dies in Gal- lien nach der oben S. 122 f. ausgesprochenen Vermutung bei dem domesticus des rationalis der Fall gewesen sein dürfte. Die gallo- fränkische Verwaltung zeigt uns in jenem Punkte das strikte Gegen- bild der römischen. Sie sucht die Bürgschaften gegen Miſsbräuche nicht in der Haftung von Offizialen, sondern mutet dem Beamten die volle und ungeteilte Verantwortung zu, auch die für sein zum Teil unfreies Amtsgesinde, das seinerseits nur ihm verantwortlich ist. Unter den Karolingern werden alle Untergebenen des Grafen als dessen iuniores oder ministri zusammengefaſst. Von den deut- schen Ausdrücken, die uns für subalterne, im Privatdienst, nach- mals auch für öffentlich angestellte Organe des Richters begegnen 18, reichen ahd. putil, butil, ags. bydel 19, der Büttel, und der für die Alamannen bezeugte Weibel 20 (der Läufer) sicherlich in die fränkische Zeit zurück. Missus, pôto, bôte, ags. boda vermag auch einen Diener 15 Wizinari in ahd. Glossen, Graff, Sprachsch. I 1123. 16 Inkneht, dienistman in ahd. Glossen, Graff, Sprachsch. IV 579. 17 Belege bei Waitz, VG II 2, S. 32, Anm. 2; S. 218, Anm. 1, 2. 18 v. Amira, Recht S. 192. Grimm, RA S. 766. 19 Graff III 82; Schmid, Ges. d. Ags. S. 542 zu ahd. piotan, bieten. 20 Siehe oben S. 185, Anm. 35.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 188. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/206>, abgerufen am 26.04.2024.