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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 101. Urteil und Urteilschelte.
fechten oder schelten3. Die fränkischen Quellen haben dafür contra-
dicere4, blasphemare5, renuere6 und das Substantivum lacina7, welchem
nachmals die in niederländischen Quellen für die Schelte gebrauchten
Ausdrücke laken, laecken, belaken8 und das friesische lakia, lackia,
leckia, lakinge, bileckinghe9 entsprechen. Die Angelsachsen sagten:
dom forsacan10 (iudicium contradicere) und nannten die Schelte auch
wemming11. Die altfranzösischen Quellen verwenden fausser, cha-
longer, niederländische wohl auch lachtern12, wederseggen, weder-
spreken, deutsche Quellen schelten, beschelten, werfen, verwerfen,
stossen, strafen13, berufen.

Die Schelte erhebt gegen die Urteilfinder den Vorwurf, dass sie
durch ihren Urteilsvorschlag der Aufforderung, zu sagen, was Rechtens
ist, nicht entsprochen hätten, dass sie nicht Recht, sondern Unrecht
gefunden hätten. Sie ist nicht sowohl gegen die Ansicht, als gegen
die Absicht der Urteilfinder gerichtet; sie behauptet nicht etwa, dass
diese das Recht nicht kannten, sondern sie geht davon aus, dass die

3 Lex Sal. 57, 3. 4. Lex Rib. 55.
4 Lex Sal. 57, 4 (Cod. 5 ff.). Vgl. Leges Henrici primi c. 34, § 4. Keure f.
Medemblik v. J. 1289, § 23, f. Beverwijk v. J. 1298 bei van den Bergh II 290. 298.
5 Cap. Theod. II v. J. 805, c. 8, I 123.
6 Lex Alam. 44 in der Sternnote.
7 In der allgemeinen Bedeutung vituperare, prohibere. Vgl. altsächs. lahan,
ahd. lahan, ags. lean. Wilda, Strafr. S. 781, Anm. 1. Hermann, Grund-
elemente der altgerm. Mobiliarvindikation, 1886, S. 126. Diefenbach, Vergl.
WB II 121. Vielleicht gehört auch die Malberg. Glosse stallacha, stallachia in
Lex Sal. 9, 2, Cod. 6 ff. und 38 mit dem zweiten Teile des Wortes hierher.
8 Z. B. Handfeste für Geervliet v. J. 1381, § 14, Privileg für Putten v. J. 1459,
§ 17: wie .. vonnisse laeckt (laect). Verslagen en Mededeel. I 190. 138. Rei-
naert, Vers 4853: men sel den dach te seer niet loven noch laken. Die alliterie-
rende Formel loven ofte laken auch in Muller, Rechtsbronnen der stad Utrecht
I 239. 349. Kilian s. v. laecken, lachteren: detrahere alicui, vituperare, blasmer
quelquun. Ags. laecing, redargutio.
9 Richthofen, WB S. 884. Jurispr. frisica 1, 35; 18, 20; 19, 8; 46, 23.
Telting, Friesche Stadrechten (1883) S. 15. 44 (Bolsward c. 18. 126) S. 74 (Sneek
c. 28--30. 32) S. 148. Auf niederländisch laecken, fries. lakia, war Herr Kollege
Heck so freundlich mich aufmerksam zu machen.
10 Edgar I 3. Knut II 15, 2.
11 Leges Henrici primi 33, § 2; 67, § 2. Von wemman blasphemare.
12 Keure für Zeeland Bewesterschelde v. J. 1290, § 7, van den Bergh II 346.
Keure f. Zeeland a. O. II 339 ff., § 88. 89. 104. Keure f. Goedereede v. J. 1451,
§ 43. 44, Verslagen en Mededeel. I 339.
13 Haltaus, Gloss. Sp. 1752.

§ 101. Urteil und Urteilschelte.
fechten oder schelten3. Die fränkischen Quellen haben dafür contra-
dicere4, blasphemare5, renuere6 und das Substantivum lacina7, welchem
nachmals die in niederländischen Quellen für die Schelte gebrauchten
Ausdrücke laken, laecken, belaken8 und das friesische lakia, lackia,
leckia, lakinge, bileckinghe9 entsprechen. Die Angelsachsen sagten:
dóm forsacan10 (iudicium contradicere) und nannten die Schelte auch
wemming11. Die altfranzösischen Quellen verwenden fausser, cha-
longer, niederländische wohl auch lachtern12, wederseggen, weder-
spreken, deutsche Quellen schelten, beschelten, werfen, verwerfen,
stoſsen, strafen13, berufen.

Die Schelte erhebt gegen die Urteilfinder den Vorwurf, daſs sie
durch ihren Urteilsvorschlag der Aufforderung, zu sagen, was Rechtens
ist, nicht entsprochen hätten, daſs sie nicht Recht, sondern Unrecht
gefunden hätten. Sie ist nicht sowohl gegen die Ansicht, als gegen
die Absicht der Urteilfinder gerichtet; sie behauptet nicht etwa, daſs
diese das Recht nicht kannten, sondern sie geht davon aus, daſs die

3 Lex Sal. 57, 3. 4. Lex Rib. 55.
4 Lex Sal. 57, 4 (Cod. 5 ff.). Vgl. Leges Henrici primi c. 34, § 4. Keure f.
Medemblik v. J. 1289, § 23, f. Beverwijk v. J. 1298 bei van den Bergh II 290. 298.
5 Cap. Theod. II v. J. 805, c. 8, I 123.
6 Lex Alam. 44 in der Sternnote.
7 In der allgemeinen Bedeutung vituperare, prohibere. Vgl. altsächs. lahan,
ahd. lahan, ags. léan. Wilda, Strafr. S. 781, Anm. 1. Hermann, Grund-
elemente der altgerm. Mobiliarvindikation, 1886, S. 126. Diefenbach, Vergl.
WB II 121. Vielleicht gehört auch die Malberg. Glosse stallacha, stallachia in
Lex Sal. 9, 2, Cod. 6 ff. und 38 mit dem zweiten Teile des Wortes hierher.
8 Z. B. Handfeste für Geervliet v. J. 1381, § 14, Privileg für Putten v. J. 1459,
§ 17: wie .. vonnisse laeckt (laect). Verslagen en Mededeel. I 190. 138. Rei-
naert, Vers 4853: men sel den dach te seer niet loven noch laken. Die alliterie-
rende Formel loven ofte laken auch in Muller, Rechtsbronnen der stad Utrecht
I 239. 349. Kilian s. v. laecken, lachteren: detrahere alicui, vituperare, blasmer
quelquun. Ags. læcing, redargutio.
9 Richthofen, WB S. 884. Jurispr. frisica 1, 35; 18, 20; 19, 8; 46, 23.
Telting, Friesche Stadrechten (1883) S. 15. 44 (Bolsward c. 18. 126) S. 74 (Sneek
c. 28—30. 32) S. 148. Auf niederländisch laecken, fries. lakia, war Herr Kollege
Heck so freundlich mich aufmerksam zu machen.
10 Edgar I 3. Knut II 15, 2.
11 Leges Henrici primi 33, § 2; 67, § 2. Von wemman blasphemare.
12 Keure für Zeeland Bewesterschelde v. J. 1290, § 7, van den Bergh II 346.
Keure f. Zeeland a. O. II 339 ff., § 88. 89. 104. Keure f. Goedereede v. J. 1451,
§ 43. 44, Verslagen en Mededeel. I 339.
13 Haltaus, Gloss. Sp. 1752.
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[356/0374] § 101. Urteil und Urteilschelte. fechten oder schelten 3. Die fränkischen Quellen haben dafür contra- dicere 4, blasphemare 5, renuere 6 und das Substantivum lacina 7, welchem nachmals die in niederländischen Quellen für die Schelte gebrauchten Ausdrücke laken, laecken, belaken 8 und das friesische lakia, lackia, leckia, lakinge, bileckinghe 9 entsprechen. Die Angelsachsen sagten: dóm forsacan 10 (iudicium contradicere) und nannten die Schelte auch wemming 11. Die altfranzösischen Quellen verwenden fausser, cha- longer, niederländische wohl auch lachtern 12, wederseggen, weder- spreken, deutsche Quellen schelten, beschelten, werfen, verwerfen, stoſsen, strafen 13, berufen. Die Schelte erhebt gegen die Urteilfinder den Vorwurf, daſs sie durch ihren Urteilsvorschlag der Aufforderung, zu sagen, was Rechtens ist, nicht entsprochen hätten, daſs sie nicht Recht, sondern Unrecht gefunden hätten. Sie ist nicht sowohl gegen die Ansicht, als gegen die Absicht der Urteilfinder gerichtet; sie behauptet nicht etwa, daſs diese das Recht nicht kannten, sondern sie geht davon aus, daſs die 3 Lex Sal. 57, 3. 4. Lex Rib. 55. 4 Lex Sal. 57, 4 (Cod. 5 ff.). Vgl. Leges Henrici primi c. 34, § 4. Keure f. Medemblik v. J. 1289, § 23, f. Beverwijk v. J. 1298 bei van den Bergh II 290. 298. 5 Cap. Theod. II v. J. 805, c. 8, I 123. 6 Lex Alam. 44 in der Sternnote. 7 In der allgemeinen Bedeutung vituperare, prohibere. Vgl. altsächs. lahan, ahd. lahan, ags. léan. Wilda, Strafr. S. 781, Anm. 1. Hermann, Grund- elemente der altgerm. Mobiliarvindikation, 1886, S. 126. Diefenbach, Vergl. WB II 121. Vielleicht gehört auch die Malberg. Glosse stallacha, stallachia in Lex Sal. 9, 2, Cod. 6 ff. und 38 mit dem zweiten Teile des Wortes hierher. 8 Z. B. Handfeste für Geervliet v. J. 1381, § 14, Privileg für Putten v. J. 1459, § 17: wie .. vonnisse laeckt (laect). Verslagen en Mededeel. I 190. 138. Rei- naert, Vers 4853: men sel den dach te seer niet loven noch laken. Die alliterie- rende Formel loven ofte laken auch in Muller, Rechtsbronnen der stad Utrecht I 239. 349. Kilian s. v. laecken, lachteren: detrahere alicui, vituperare, blasmer quelquun. Ags. læcing, redargutio. 9 Richthofen, WB S. 884. Jurispr. frisica 1, 35; 18, 20; 19, 8; 46, 23. Telting, Friesche Stadrechten (1883) S. 15. 44 (Bolsward c. 18. 126) S. 74 (Sneek c. 28—30. 32) S. 148. Auf niederländisch laecken, fries. lakia, war Herr Kollege Heck so freundlich mich aufmerksam zu machen. 10 Edgar I 3. Knut II 15, 2. 11 Leges Henrici primi 33, § 2; 67, § 2. Von wemman blasphemare. 12 Keure für Zeeland Bewesterschelde v. J. 1290, § 7, van den Bergh II 346. Keure f. Zeeland a. O. II 339 ff., § 88. 89. 104. Keure f. Goedereede v. J. 1451, § 43. 44, Verslagen en Mededeel. I 339. 13 Haltaus, Gloss. Sp. 1752.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 356. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/374>, abgerufen am 26.04.2024.