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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 107. Die Urkunde.
die Notitia, die auf Grund eines gerichtlichen Urkundungsbefehles aus-
gefertigt worden war, gleich der Königsurkunde als unscheltbare
Urkunde behandelt 4, eine Besonderheit, die mit der frühzeitigen Aus-
bildung eines unanfechtbaren Gerichtszeugnisses zusammenhängt 5.

Im Gegensatze zur Königsurkunde (und zur langobardischen Ge-
richtsurkunde) besass die Privaturkunde keine selbständige Beweis-
kraft. Allerdings galt, wenn der Gegner des Urkundenproducenten
die Urkunde als carta bona, vera, idonea anerkannte, ihr Inhalt für
bewiesen. Allein man konnte ihr den Glauben versagen, die Urkunde
anfechten, schelten. Dann galt es, die Wahrheit der gescholtenen
Urkunde zu erhärten, werire 6, idoneare, adverare, langobardisch
hardire, ardire. Form und Wirkung der Schelte waren verschieden
nach den verschiedenen Stammesrechten.

Die beiden fränkischen Rechte kennen zwei Arten der Urkunden-
schelte 7, eine schlichte und eine rechtsförmliche, zweien sich aber
hinsichtlich ihrer Wirkungen. Gegen die schlichte Schelte verteidigt
sich nach salischem Rechte der Producent der Urkunde, indem er die
Wahrheit des Inhalts, den die Schelte in Frage stellt, mit zwölf
Eidhelfern beschwört 8. Will es der Scheltende auf diesen Eid nicht
ankommen lassen, so muss er eine förmliche Schelte einbringen, die
darin besteht, dass er vor Gericht die Urkunde durchstösst 9 (trans-

4 Der Gegner des Beweisführers kann daher sachlich nur die Wahrheit des
Urkundungsbefehles anfechten, welche erforderlichen Falles das Gerichtszeugnis
feststellt. Ein Beispiel solcher Feststellung bietet die Urkunde bei Ficker, For-
schungen IV 12, Nr. 9, v. J. 824.
5 Siehe oben § 394.
6 Lex Rib. 59, 6: virire, werire werjan, wehren.
7 Schon das römische Recht unterschied bürgerliche und peinliche Anfech-
tung der Urkunde, jenachdem sie civiliter oder criminaliter (mit der accusatio falsi)
geschah. Cod. Iust. IX 22, 16, v. J. 294 (de fide testamenti querenti duplex via
litigandi tributa est). Cod. Theod. IX 19, 4 v. J. 376. Lex Rom. Wisig. C. Th.
IX 15, 2, Interpretatio: De falso potest et criminaliter et civiliter agi. Civiliter
quum aliquis quibuslibet scripturis non falsi crimen obicerit, sed veritatem scriptu-
rae se velle quaerere dicit.
8 Extravag. B. zur Lex Sal. 3.
9 Extravag. B. zur Lex Sal. 4: et ille, qui falsam adclamaverit, subula statim
transforaverit. Beispiele einer transpunctio bieten die Urkunden Bernard, Chartes
de Cluny I 18, Nr. 15, v. J. 870, H. 382, Germer Durand, Cartul. de Nimes Nr. 1,
v. J. 876, H. 404, Thevenin Nr. 89, v. J. 857, H. 351. In H. 382 hatte die Be-
klagte, Benedicta, die von ihr ausgestellte Urkunde durchstochen. Der Gatte der
Klägerin gelobt dem Urteil gemäss (cartam emonire, wie statt aram emoni zu lesen,
von munire), quod in placitum debuit presentare testimonia .. secundum lege Sa-
lica et iurare, quod ipsa carta .. vera fuisset. Er erscheint im Termin una cum

§ 107. Die Urkunde.
die Notitia, die auf Grund eines gerichtlichen Urkundungsbefehles aus-
gefertigt worden war, gleich der Königsurkunde als unscheltbare
Urkunde behandelt 4, eine Besonderheit, die mit der frühzeitigen Aus-
bildung eines unanfechtbaren Gerichtszeugnisses zusammenhängt 5.

Im Gegensatze zur Königsurkunde (und zur langobardischen Ge-
richtsurkunde) besaſs die Privaturkunde keine selbständige Beweis-
kraft. Allerdings galt, wenn der Gegner des Urkundenproducenten
die Urkunde als carta bona, vera, idonea anerkannte, ihr Inhalt für
bewiesen. Allein man konnte ihr den Glauben versagen, die Urkunde
anfechten, schelten. Dann galt es, die Wahrheit der gescholtenen
Urkunde zu erhärten, werire 6, idoneare, adverare, langobardisch
hardire, ardire. Form und Wirkung der Schelte waren verschieden
nach den verschiedenen Stammesrechten.

Die beiden fränkischen Rechte kennen zwei Arten der Urkunden-
schelte 7, eine schlichte und eine rechtsförmliche, zweien sich aber
hinsichtlich ihrer Wirkungen. Gegen die schlichte Schelte verteidigt
sich nach salischem Rechte der Producent der Urkunde, indem er die
Wahrheit des Inhalts, den die Schelte in Frage stellt, mit zwölf
Eidhelfern beschwört 8. Will es der Scheltende auf diesen Eid nicht
ankommen lassen, so muſs er eine förmliche Schelte einbringen, die
darin besteht, daſs er vor Gericht die Urkunde durchstöſst 9 (trans-

4 Der Gegner des Beweisführers kann daher sachlich nur die Wahrheit des
Urkundungsbefehles anfechten, welche erforderlichen Falles das Gerichtszeugnis
feststellt. Ein Beispiel solcher Feststellung bietet die Urkunde bei Ficker, For-
schungen IV 12, Nr. 9, v. J. 824.
5 Siehe oben § 394.
6 Lex Rib. 59, 6: virire, werire werjan, wehren.
7 Schon das römische Recht unterschied bürgerliche und peinliche Anfech-
tung der Urkunde, jenachdem sie civiliter oder criminaliter (mit der accusatio falsi)
geschah. Cod. Iust. IX 22, 16, v. J. 294 (de fide testamenti querenti duplex via
litigandi tributa est). Cod. Theod. IX 19, 4 v. J. 376. Lex Rom. Wisig. C. Th.
IX 15, 2, Interpretatio: De falso potest et criminaliter et civiliter agi. Civiliter
quum aliquis quibuslibet scripturis non falsi crimen obicerit, sed veritatem scriptu-
rae se velle quaerere dicit.
8 Extravag. B. zur Lex Sal. 3.
9 Extravag. B. zur Lex Sal. 4: et ille, qui falsam adclamaverit, subula statim
transforaverit. Beispiele einer transpunctio bieten die Urkunden Bernard, Chartes
de Cluny I 18, Nr. 15, v. J. 870, H. 382, Germer Durand, Cartul. de Nimes Nr. 1,
v. J. 876, H. 404, Thévenin Nr. 89, v. J. 857, H. 351. In H. 382 hatte die Be-
klagte, Benedicta, die von ihr ausgestellte Urkunde durchstochen. Der Gatte der
Klägerin gelobt dem Urteil gemäſs (cartam emonire, wie statt aram emoni zu lesen,
von munire), quod in placitum debuit presentare testimonia .. secundum lege Sa-
lica et iurare, quod ipsa carta .. vera fuisset. Er erscheint im Termin una cum
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[421/0439] § 107. Die Urkunde. die Notitia, die auf Grund eines gerichtlichen Urkundungsbefehles aus- gefertigt worden war, gleich der Königsurkunde als unscheltbare Urkunde behandelt 4, eine Besonderheit, die mit der frühzeitigen Aus- bildung eines unanfechtbaren Gerichtszeugnisses zusammenhängt 5. Im Gegensatze zur Königsurkunde (und zur langobardischen Ge- richtsurkunde) besaſs die Privaturkunde keine selbständige Beweis- kraft. Allerdings galt, wenn der Gegner des Urkundenproducenten die Urkunde als carta bona, vera, idonea anerkannte, ihr Inhalt für bewiesen. Allein man konnte ihr den Glauben versagen, die Urkunde anfechten, schelten. Dann galt es, die Wahrheit der gescholtenen Urkunde zu erhärten, werire 6, idoneare, adverare, langobardisch hardire, ardire. Form und Wirkung der Schelte waren verschieden nach den verschiedenen Stammesrechten. Die beiden fränkischen Rechte kennen zwei Arten der Urkunden- schelte 7, eine schlichte und eine rechtsförmliche, zweien sich aber hinsichtlich ihrer Wirkungen. Gegen die schlichte Schelte verteidigt sich nach salischem Rechte der Producent der Urkunde, indem er die Wahrheit des Inhalts, den die Schelte in Frage stellt, mit zwölf Eidhelfern beschwört 8. Will es der Scheltende auf diesen Eid nicht ankommen lassen, so muſs er eine förmliche Schelte einbringen, die darin besteht, daſs er vor Gericht die Urkunde durchstöſst 9 (trans- 4 Der Gegner des Beweisführers kann daher sachlich nur die Wahrheit des Urkundungsbefehles anfechten, welche erforderlichen Falles das Gerichtszeugnis feststellt. Ein Beispiel solcher Feststellung bietet die Urkunde bei Ficker, For- schungen IV 12, Nr. 9, v. J. 824. 5 Siehe oben § 394. 6 Lex Rib. 59, 6: virire, werire werjan, wehren. 7 Schon das römische Recht unterschied bürgerliche und peinliche Anfech- tung der Urkunde, jenachdem sie civiliter oder criminaliter (mit der accusatio falsi) geschah. Cod. Iust. IX 22, 16, v. J. 294 (de fide testamenti querenti duplex via litigandi tributa est). Cod. Theod. IX 19, 4 v. J. 376. Lex Rom. Wisig. C. Th. IX 15, 2, Interpretatio: De falso potest et criminaliter et civiliter agi. Civiliter quum aliquis quibuslibet scripturis non falsi crimen obicerit, sed veritatem scriptu- rae se velle quaerere dicit. 8 Extravag. B. zur Lex Sal. 3. 9 Extravag. B. zur Lex Sal. 4: et ille, qui falsam adclamaverit, subula statim transforaverit. Beispiele einer transpunctio bieten die Urkunden Bernard, Chartes de Cluny I 18, Nr. 15, v. J. 870, H. 382, Germer Durand, Cartul. de Nimes Nr. 1, v. J. 876, H. 404, Thévenin Nr. 89, v. J. 857, H. 351. In H. 382 hatte die Be- klagte, Benedicta, die von ihr ausgestellte Urkunde durchstochen. Der Gatte der Klägerin gelobt dem Urteil gemäſs (cartam emonire, wie statt aram emoni zu lesen, von munire), quod in placitum debuit presentare testimonia .. secundum lege Sa- lica et iurare, quod ipsa carta .. vera fuisset. Er erscheint im Termin una cum

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 421. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/439>, abgerufen am 27.04.2024.