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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 132. Die Acht, ihre Spielarten und Abspaltungen.
ist ebenso wie jener capitis damnatus, auch wenn der formelle Unter-
schied obwaltet, dass er durch die Ächtungsformel ausdrücklich für jeder-
mann in den Unfrieden gebannt wird. Wo die Quellen auf ein Ver-
brechen den Verlust des Lebens setzen, schliessen sie auch den Fall
in sich, dass gegen den abwesenden Missethäter ein Contumacialurteil
mit Unfriedensbann ausgesprochen werden muss4.

Im Laufe der Zeit hat die Friedlosigkeit für bestimmte Fälle
eine Abschwächung erfahren und haben sich einzelne der in der Fried-
losigkeit enthaltenen Rechtsfolgen und einzelne Arten gemilderter
Acht als selbständige Strafen abgezweigt.

Nur eine Spielart der Acht war es, wenn nach manchen Rechten
dem Verbrecher, der sich vor Gericht gestellt hat und überführt
worden ist, Zeit zur Flucht gegönnt wurde, wie dies nach den nordi-
schen Rechten regelmässig geschah5. Man gab hier solche Frist, damit
der Beklagte sich nicht scheue, vor Gericht zu erscheinen und sich zu
verantworten. Die Möglichkeit der Flucht wurde dadurch vermittelt,
dass das Urteil in seinem vollen Inhalte nicht sofort wirksam oder
dass es nicht sofort nach der Überführung gefällt wurde. So sollte
nach der isländischen Gragas der Verurteilte erst nach Schluss
der Dingversammlung dem Tode verfallen sein6, während das norwe-
gische Recht ihm eine fünfnächtige Fluchtfrist gewährte7. So hatte
nach dem Rechte von Schonen der Dieb, der bei dem Ordal des
glühenden Eisens unterlag, einen Tag Frist zu fliehen, da er erst nach
diesem Tage friedlos und zum Galgen verurteilt werden konnte8.
Flüchtete der Verbrecher, so wirkte die Friedlosigkeit gegen ihn als
Verbannung. Die sühnbare Acht des isländischen Rechtes, die zum

4 Wenn es in Lex Sax. 28 heisst: capitis damnatus nusquam habeat pacem;
si in ecclesiam confugerit, reddatur, so ist dabei sicherlich nicht bloss an die
Möglichkeit gedacht, dass ein in seiner Anwesenheit zum Tode verurteilter Misse-
thäter die Gelegenheit findet, nach der Verurteilung in eine Kirche zu flüchten,
sondern hauptsächlich an ein gegen den Abwesenden ausgesprochenes Todesurteil.
Nur um ein Todesurteil mit Unfriedensbann kann es sich handeln, wenn Ludwig I.
vorgeworfen wird, dass er Abwesende habe widerrechtlich zum Tode verurteilen
lassen. Siehe oben S. 466, Anm. 24.
5 Wilda, Strafrecht S. 285. Das Recht auf Flucht gab schon Knuts Wither-
lagsrecht. Pappenheim, Kr. V. XXXII 41.
6 Gragas I a S. 83.
7 v. Amira, Obligationenrecht II 129. Über die kürzeren schwedischen
Fristen Wilda, Strafrecht S. 284. Über die der dänischen Rechte Stemann a. O.
8 Sunesen c. 87: alioquin pauci candentis ferri iudicio consentirent ... Da-
zu c. 132: convictus autem gaudebit uno die tantum induciis libertatis, post quem
licite, si repertus fuerit, suspendetur.

§ 132. Die Acht, ihre Spielarten und Abspaltungen.
ist ebenso wie jener capitis damnatus, auch wenn der formelle Unter-
schied obwaltet, daſs er durch die Ächtungsformel ausdrücklich für jeder-
mann in den Unfrieden gebannt wird. Wo die Quellen auf ein Ver-
brechen den Verlust des Lebens setzen, schlieſsen sie auch den Fall
in sich, daſs gegen den abwesenden Missethäter ein Contumacialurteil
mit Unfriedensbann ausgesprochen werden muſs4.

Im Laufe der Zeit hat die Friedlosigkeit für bestimmte Fälle
eine Abschwächung erfahren und haben sich einzelne der in der Fried-
losigkeit enthaltenen Rechtsfolgen und einzelne Arten gemilderter
Acht als selbständige Strafen abgezweigt.

Nur eine Spielart der Acht war es, wenn nach manchen Rechten
dem Verbrecher, der sich vor Gericht gestellt hat und überführt
worden ist, Zeit zur Flucht gegönnt wurde, wie dies nach den nordi-
schen Rechten regelmäſsig geschah5. Man gab hier solche Frist, damit
der Beklagte sich nicht scheue, vor Gericht zu erscheinen und sich zu
verantworten. Die Möglichkeit der Flucht wurde dadurch vermittelt,
daſs das Urteil in seinem vollen Inhalte nicht sofort wirksam oder
daſs es nicht sofort nach der Überführung gefällt wurde. So sollte
nach der isländischen Grágás der Verurteilte erst nach Schluſs
der Dingversammlung dem Tode verfallen sein6, während das norwe-
gische Recht ihm eine fünfnächtige Fluchtfrist gewährte7. So hatte
nach dem Rechte von Schonen der Dieb, der bei dem Ordal des
glühenden Eisens unterlag, einen Tag Frist zu fliehen, da er erst nach
diesem Tage friedlos und zum Galgen verurteilt werden konnte8.
Flüchtete der Verbrecher, so wirkte die Friedlosigkeit gegen ihn als
Verbannung. Die sühnbare Acht des isländischen Rechtes, die zum

4 Wenn es in Lex Sax. 28 heiſst: capitis damnatus nusquam habeat pacem;
si in ecclesiam confugerit, reddatur, so ist dabei sicherlich nicht bloſs an die
Möglichkeit gedacht, daſs ein in seiner Anwesenheit zum Tode verurteilter Misse-
thäter die Gelegenheit findet, nach der Verurteilung in eine Kirche zu flüchten,
sondern hauptsächlich an ein gegen den Abwesenden ausgesprochenes Todesurteil.
Nur um ein Todesurteil mit Unfriedensbann kann es sich handeln, wenn Ludwig I.
vorgeworfen wird, daſs er Abwesende habe widerrechtlich zum Tode verurteilen
lassen. Siehe oben S. 466, Anm. 24.
5 Wilda, Strafrecht S. 285. Das Recht auf Flucht gab schon Knuts Wither-
lagsrecht. Pappenheim, Kr. V. XXXII 41.
6 Grágás I a S. 83.
7 v. Amira, Obligationenrecht II 129. Über die kürzeren schwedischen
Fristen Wilda, Strafrecht S. 284. Über die der dänischen Rechte Stemann a. O.
8 Sunesen c. 87: alioquin pauci candentis ferri iudicio consentirent … Da-
zu c. 132: convictus autem gaudebit uno die tantum induciis libertatis, post quem
licite, si repertus fuerit, suspendetur.
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[591/0609] § 132. Die Acht, ihre Spielarten und Abspaltungen. ist ebenso wie jener capitis damnatus, auch wenn der formelle Unter- schied obwaltet, daſs er durch die Ächtungsformel ausdrücklich für jeder- mann in den Unfrieden gebannt wird. Wo die Quellen auf ein Ver- brechen den Verlust des Lebens setzen, schlieſsen sie auch den Fall in sich, daſs gegen den abwesenden Missethäter ein Contumacialurteil mit Unfriedensbann ausgesprochen werden muſs 4. Im Laufe der Zeit hat die Friedlosigkeit für bestimmte Fälle eine Abschwächung erfahren und haben sich einzelne der in der Fried- losigkeit enthaltenen Rechtsfolgen und einzelne Arten gemilderter Acht als selbständige Strafen abgezweigt. Nur eine Spielart der Acht war es, wenn nach manchen Rechten dem Verbrecher, der sich vor Gericht gestellt hat und überführt worden ist, Zeit zur Flucht gegönnt wurde, wie dies nach den nordi- schen Rechten regelmäſsig geschah 5. Man gab hier solche Frist, damit der Beklagte sich nicht scheue, vor Gericht zu erscheinen und sich zu verantworten. Die Möglichkeit der Flucht wurde dadurch vermittelt, daſs das Urteil in seinem vollen Inhalte nicht sofort wirksam oder daſs es nicht sofort nach der Überführung gefällt wurde. So sollte nach der isländischen Grágás der Verurteilte erst nach Schluſs der Dingversammlung dem Tode verfallen sein 6, während das norwe- gische Recht ihm eine fünfnächtige Fluchtfrist gewährte 7. So hatte nach dem Rechte von Schonen der Dieb, der bei dem Ordal des glühenden Eisens unterlag, einen Tag Frist zu fliehen, da er erst nach diesem Tage friedlos und zum Galgen verurteilt werden konnte 8. Flüchtete der Verbrecher, so wirkte die Friedlosigkeit gegen ihn als Verbannung. Die sühnbare Acht des isländischen Rechtes, die zum 4 Wenn es in Lex Sax. 28 heiſst: capitis damnatus nusquam habeat pacem; si in ecclesiam confugerit, reddatur, so ist dabei sicherlich nicht bloſs an die Möglichkeit gedacht, daſs ein in seiner Anwesenheit zum Tode verurteilter Misse- thäter die Gelegenheit findet, nach der Verurteilung in eine Kirche zu flüchten, sondern hauptsächlich an ein gegen den Abwesenden ausgesprochenes Todesurteil. Nur um ein Todesurteil mit Unfriedensbann kann es sich handeln, wenn Ludwig I. vorgeworfen wird, daſs er Abwesende habe widerrechtlich zum Tode verurteilen lassen. Siehe oben S. 466, Anm. 24. 5 Wilda, Strafrecht S. 285. Das Recht auf Flucht gab schon Knuts Wither- lagsrecht. Pappenheim, Kr. V. XXXII 41. 6 Grágás I a S. 83. 7 v. Amira, Obligationenrecht II 129. Über die kürzeren schwedischen Fristen Wilda, Strafrecht S. 284. Über die der dänischen Rechte Stemann a. O. 8 Sunesen c. 87: alioquin pauci candentis ferri iudicio consentirent … Da- zu c. 132: convictus autem gaudebit uno die tantum induciis libertatis, post quem licite, si repertus fuerit, suspendetur.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 591. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/609>, abgerufen am 27.04.2024.