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Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879.

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habe ich gelesen und zu meiner Freude dabei bemerkt, daß
ich keine Anlagen zur Eitelkeit habe. Was übrigens die
sogenannte Unsittlichkeit meines Buchs angeht, so habe ich
Folgendes zu antworten: der dramatische Dichter ist in
meinen Augen nichts, als ein Geschichtschreiber, steht aber
über Letzterem dadurch, daß er uns die Geschichte zum
zweiten Mal erschafft und uns gleich unmittelbar, statt eine
trockne Erzählung zu geben, in das Leben einer Zeit hinein
versetzt, uns statt Charakteristiken Charaktere und statt Be-
schreibungen Gestalten gibt. Seine höchste Aufgabe ist, der
Geschichte, wie sie sich wirklich begeben, so nahe als möglich
zu kommen. Sein Buch darf weder sittlicher noch un-
sittlicher sein, als die Geschichte selbst; aber die
Geschichte ist vom lieben Herrgott nicht zu einer Lectüre für
junge Frauenzimmer geschaffen worden, und da ist es mir
auch nicht übel zu nehmen, wenn mein Drama ebensowenig
dazu geeignet ist. Ich kann doch aus einem Danton und
den Banditen der Revolution nicht Tugendhelden machen!
Wenn ich ihre Liederlichkeit schildern wollte, so mußte ich
sie eben liederlich sein, wenn ich ihre Gottlosigkeit zeigen
wollte, so mußte ich sie eben wie Atheisten sprechen lassen.
Wenn einige unanständige Ausdrücke vorkommen, so denke
man an die weltbekannte, obscöne Sprache der damaligen
Zeit, wovon das, was ich meine Leute sagen lasse, nur ein
schwacher Abriß ist. Man könnte mir nur noch vorwerfen,
daß ich einen solchen Stoff gewählt hätte. Aber der Ein-
wurf ist längst widerlegt. Wollte man ihn gelten lassen,
so müßten die größten Meisterwerke der Poesie verworfen
werden. Der Dichter ist kein Lehrer der Moral, er erfindet
und schafft Gestalten, er macht vergangene Zeiten wieder

habe ich geleſen und zu meiner Freude dabei bemerkt, daß
ich keine Anlagen zur Eitelkeit habe. Was übrigens die
ſogenannte Unſittlichkeit meines Buchs angeht, ſo habe ich
Folgendes zu antworten: der dramatiſche Dichter iſt in
meinen Augen nichts, als ein Geſchichtſchreiber, ſteht aber
über Letzterem dadurch, daß er uns die Geſchichte zum
zweiten Mal erſchafft und uns gleich unmittelbar, ſtatt eine
trockne Erzählung zu geben, in das Leben einer Zeit hinein
verſetzt, uns ſtatt Charakteriſtiken Charaktere und ſtatt Be-
ſchreibungen Geſtalten gibt. Seine höchſte Aufgabe iſt, der
Geſchichte, wie ſie ſich wirklich begeben, ſo nahe als möglich
zu kommen. Sein Buch darf weder ſittlicher noch un-
ſittlicher ſein, als die Geſchichte ſelbſt; aber die
Geſchichte iſt vom lieben Herrgott nicht zu einer Lectüre für
junge Frauenzimmer geſchaffen worden, und da iſt es mir
auch nicht übel zu nehmen, wenn mein Drama ebenſowenig
dazu geeignet iſt. Ich kann doch aus einem Danton und
den Banditen der Revolution nicht Tugendhelden machen!
Wenn ich ihre Liederlichkeit ſchildern wollte, ſo mußte ich
ſie eben liederlich ſein, wenn ich ihre Gottloſigkeit zeigen
wollte, ſo mußte ich ſie eben wie Atheiſten ſprechen laſſen.
Wenn einige unanſtändige Ausdrücke vorkommen, ſo denke
man an die weltbekannte, obſcöne Sprache der damaligen
Zeit, wovon das, was ich meine Leute ſagen laſſe, nur ein
ſchwacher Abriß iſt. Man könnte mir nur noch vorwerfen,
daß ich einen ſolchen Stoff gewählt hätte. Aber der Ein-
wurf iſt längſt widerlegt. Wollte man ihn gelten laſſen,
ſo müßten die größten Meiſterwerke der Poeſie verworfen
werden. Der Dichter iſt kein Lehrer der Moral, er erfindet
und ſchafft Geſtalten, er macht vergangene Zeiten wieder

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[354/0550] habe ich geleſen und zu meiner Freude dabei bemerkt, daß ich keine Anlagen zur Eitelkeit habe. Was übrigens die ſogenannte Unſittlichkeit meines Buchs angeht, ſo habe ich Folgendes zu antworten: der dramatiſche Dichter iſt in meinen Augen nichts, als ein Geſchichtſchreiber, ſteht aber über Letzterem dadurch, daß er uns die Geſchichte zum zweiten Mal erſchafft und uns gleich unmittelbar, ſtatt eine trockne Erzählung zu geben, in das Leben einer Zeit hinein verſetzt, uns ſtatt Charakteriſtiken Charaktere und ſtatt Be- ſchreibungen Geſtalten gibt. Seine höchſte Aufgabe iſt, der Geſchichte, wie ſie ſich wirklich begeben, ſo nahe als möglich zu kommen. Sein Buch darf weder ſittlicher noch un- ſittlicher ſein, als die Geſchichte ſelbſt; aber die Geſchichte iſt vom lieben Herrgott nicht zu einer Lectüre für junge Frauenzimmer geſchaffen worden, und da iſt es mir auch nicht übel zu nehmen, wenn mein Drama ebenſowenig dazu geeignet iſt. Ich kann doch aus einem Danton und den Banditen der Revolution nicht Tugendhelden machen! Wenn ich ihre Liederlichkeit ſchildern wollte, ſo mußte ich ſie eben liederlich ſein, wenn ich ihre Gottloſigkeit zeigen wollte, ſo mußte ich ſie eben wie Atheiſten ſprechen laſſen. Wenn einige unanſtändige Ausdrücke vorkommen, ſo denke man an die weltbekannte, obſcöne Sprache der damaligen Zeit, wovon das, was ich meine Leute ſagen laſſe, nur ein ſchwacher Abriß iſt. Man könnte mir nur noch vorwerfen, daß ich einen ſolchen Stoff gewählt hätte. Aber der Ein- wurf iſt längſt widerlegt. Wollte man ihn gelten laſſen, ſo müßten die größten Meiſterwerke der Poeſie verworfen werden. Der Dichter iſt kein Lehrer der Moral, er erfindet und ſchafft Geſtalten, er macht vergangene Zeiten wieder

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Zitationshilfe: Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879, S. 354. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/550>, abgerufen am 26.04.2024.