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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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Naturen walte ein hoher Grad von Trägheit, um nicht zu
sagen Gleichgültigkeit gerade in diesen Beziehungen vor. --
Der Seelen, denen es schon in früher Zeit der Entwicklung
ihres Geistes keine Ruhe läßt dem eingebornen Streben nach
Selbsterkenntniß zu genügen, der Seelen, welche fortwährend
von innerm Sehnen getrieben nach der Speise sich umthun,
welche schon Dante "das Brot der Engel" nannte, ihrer
ist immer nur eine kleine gezählte Menge vorhanden gewesen.

Hat sich doch nun gar in unsern Tagen um den Men¬
schen eine eigene Künstlichkeit des Lebens gehäuft! -- und wie
der, welcher in einer tobenden Brandung schwimmt und
alle Sinne nur anspannen muß um das rettende Ufer zu
erreichen, in dem Augenblicke an gar nichts Anderes denken
kann, indem ihm nun unwillkürlich alle Vorstellungen weit
zurückgedrängt werden, die ihm sonst wohl die wichtigsten
waren, so finden sich jetzt eine Menge von Menschen der¬
gestalt in das brausende Treiben industrieller, commercieller,
statistischer, ökonomischer und politischer Interessen einge¬
zwängt und festgehalten, daß irgend ein ruhiges Schauen in
sich
, irgend ein tieferes Nachdenken über Das, was der Seele
zuletzt doch die wichtigsten Fragen sein müssen, fortan ihnen
fast zur Unmöglichkeit wird. Nicht minder groß auf der
andern Seite ist dann auch die Zahl Derer, in denen der
stäte Kampf mit der peinigenden Noth des Lebens, in denen
der Mangel aller geistigen Bildung und Nahrung, den Drang
jener höhern Sehnsucht und die Begierde nach Lösung jener

Naturen walte ein hoher Grad von Trägheit, um nicht zu
ſagen Gleichgültigkeit gerade in dieſen Beziehungen vor. —
Der Seelen, denen es ſchon in früher Zeit der Entwicklung
ihres Geiſtes keine Ruhe läßt dem eingebornen Streben nach
Selbſterkenntniß zu genügen, der Seelen, welche fortwährend
von innerm Sehnen getrieben nach der Speiſe ſich umthun,
welche ſchon Dante „das Brot der Engel“ nannte, ihrer
iſt immer nur eine kleine gezählte Menge vorhanden geweſen.

Hat ſich doch nun gar in unſern Tagen um den Men¬
ſchen eine eigene Künſtlichkeit des Lebens gehäuft! — und wie
der, welcher in einer tobenden Brandung ſchwimmt und
alle Sinne nur anſpannen muß um das rettende Ufer zu
erreichen, in dem Augenblicke an gar nichts Anderes denken
kann, indem ihm nun unwillkürlich alle Vorſtellungen weit
zurückgedrängt werden, die ihm ſonſt wohl die wichtigſten
waren, ſo finden ſich jetzt eine Menge von Menſchen der¬
geſtalt in das brauſende Treiben induſtrieller, commercieller,
ſtatiſtiſcher, ökonomiſcher und politiſcher Intereſſen einge¬
zwängt und feſtgehalten, daß irgend ein ruhiges Schauen in
ſich
, irgend ein tieferes Nachdenken über Das, was der Seele
zuletzt doch die wichtigſten Fragen ſein müſſen, fortan ihnen
faſt zur Unmöglichkeit wird. Nicht minder groß auf der
andern Seite iſt dann auch die Zahl Derer, in denen der
ſtäte Kampf mit der peinigenden Noth des Lebens, in denen
der Mangel aller geiſtigen Bildung und Nahrung, den Drang
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[IV/0012] Naturen walte ein hoher Grad von Trägheit, um nicht zu ſagen Gleichgültigkeit gerade in dieſen Beziehungen vor. — Der Seelen, denen es ſchon in früher Zeit der Entwicklung ihres Geiſtes keine Ruhe läßt dem eingebornen Streben nach Selbſterkenntniß zu genügen, der Seelen, welche fortwährend von innerm Sehnen getrieben nach der Speiſe ſich umthun, welche ſchon Dante „das Brot der Engel“ nannte, ihrer iſt immer nur eine kleine gezählte Menge vorhanden geweſen. Hat ſich doch nun gar in unſern Tagen um den Men¬ ſchen eine eigene Künſtlichkeit des Lebens gehäuft! — und wie der, welcher in einer tobenden Brandung ſchwimmt und alle Sinne nur anſpannen muß um das rettende Ufer zu erreichen, in dem Augenblicke an gar nichts Anderes denken kann, indem ihm nun unwillkürlich alle Vorſtellungen weit zurückgedrängt werden, die ihm ſonſt wohl die wichtigſten waren, ſo finden ſich jetzt eine Menge von Menſchen der¬ geſtalt in das brauſende Treiben induſtrieller, commercieller, ſtatiſtiſcher, ökonomiſcher und politiſcher Intereſſen einge¬ zwängt und feſtgehalten, daß irgend ein ruhiges Schauen in ſich, irgend ein tieferes Nachdenken über Das, was der Seele zuletzt doch die wichtigſten Fragen ſein müſſen, fortan ihnen faſt zur Unmöglichkeit wird. Nicht minder groß auf der andern Seite iſt dann auch die Zahl Derer, in denen der ſtäte Kampf mit der peinigenden Noth des Lebens, in denen der Mangel aller geiſtigen Bildung und Nahrung, den Drang jener höhern Sehnſucht und die Begierde nach Löſung jener

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. IV. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/12>, abgerufen am 26.04.2024.