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Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872.

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3. Alter und Verbreitung der Thierfabel.
sonderer Personen, des Thiermanns, zuweilen der Thiermutter (zu
welcher der junge Sämung kommt), auch der Wolfsmutter. Weiter
verbinden sich dann bestimmte Thiere mit einzelnen Naturerscheinun-
gen. So kommt nach einem Eddaliede der Wind, der über das Wasser
fährt den Menschen unsichtbar, von den Schwingen des Jötun Hräs-
velg, der in Adlersgestalt an des Himmels Ende sitzt. Die Jahreszei-
ten, das Wechselnde in der unbelebten Natur, werden an das Erschei-
nen und Verschwinden der Thiere geknüpft, am häufigsten bestimmter.
Der Kuckuck kündet das Jahr16); ihm folgt bei uns die Nachtigall,
während in England, wo die Nachtigall seltner ist, der Kuckuck fester
gehalten wird. Den Winter über herrscht die Eule.

Am nächsten berührt uns aber hier das Verhältniß des Menschen
zu den Thieren. Manche Thiere werden für edler gehalten, als andre,
daher auch für würdiger bekämpft zu werden. So ist vor Allen bei den
alten Deutschen der Bär der Heldenwaffe kampfgerecht. Aehnlicher
Ehre wird indeß auch der Eber theilhaft, sowohl in Deutschland (Sieg-
fried) als in England (Guy von Warwick), vielleicht im Zusammen-
hange mit dem der Freya geweihten Eber des nordischen Heidenthums.
Dieser wird zum Juleber, dessen Kopf früher in Oxford zum Weih-
nachtsfeste in feierlicher Procession hereingetragen wurde17). Auf ein-
gehendere Beobachtungen sind manche der den Thieren beigegebenen
Eigenschaftsworte zurückzuführen18).

Die Beziehungen wurden aber noch inniger dadurch, daß man
sich die Thiere menschenähnlich mit Charakter, Geist und Sprache aus-
gerüstet vorstellte. "Wie durch ein Mißgeschick sind die Thiere nachher
verstummt oder halten vor den Menschen, deren Schuld gleichsam dabei

16) Bei Alkman heißt der kerulos, dort identisch mit alkuon dem Eis-
vogel: aluporphuros eiaros ornis; 21. Fragm. Die Schwalbe erscheint als Früh-
lingsbote in den khelidonismata und selbst in Vasenbildern.
17) Caput apri defero reddens laudes domino. Sandy, Christmas
Carols, LIX, 19.
18) Am reichlichsten ist mit solchen bereits im Alterthum die Nachtigall ver-
sehen; nur aus den griechischen Lyrikern mag z. B. angeführt werden: liguphthog-
gos, imerophonos, polukotilos, khloraukhen u. s. w. Freilich werden bei Alk-
man auch die Rebhühner (kakkabides) glukustopoi genannt. 60. Fragm.
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3. Alter und Verbreitung der Thierfabel.
ſonderer Perſonen, des Thiermanns, zuweilen der Thiermutter (zu
welcher der junge Sämung kommt), auch der Wolfsmutter. Weiter
verbinden ſich dann beſtimmte Thiere mit einzelnen Naturerſcheinun-
gen. So kommt nach einem Eddaliede der Wind, der über das Waſſer
fährt den Menſchen unſichtbar, von den Schwingen des Jötun Hräs-
velg, der in Adlersgeſtalt an des Himmels Ende ſitzt. Die Jahreszei-
ten, das Wechſelnde in der unbelebten Natur, werden an das Erſchei-
nen und Verſchwinden der Thiere geknüpft, am häufigſten beſtimmter.
Der Kuckuck kündet das Jahr16); ihm folgt bei uns die Nachtigall,
während in England, wo die Nachtigall ſeltner iſt, der Kuckuck feſter
gehalten wird. Den Winter über herrſcht die Eule.

Am nächſten berührt uns aber hier das Verhältniß des Menſchen
zu den Thieren. Manche Thiere werden für edler gehalten, als andre,
daher auch für würdiger bekämpft zu werden. So iſt vor Allen bei den
alten Deutſchen der Bär der Heldenwaffe kampfgerecht. Aehnlicher
Ehre wird indeß auch der Eber theilhaft, ſowohl in Deutſchland (Sieg-
fried) als in England (Guy von Warwick), vielleicht im Zuſammen-
hange mit dem der Freya geweihten Eber des nordiſchen Heidenthums.
Dieſer wird zum Juleber, deſſen Kopf früher in Oxford zum Weih-
nachtsfeſte in feierlicher Proceſſion hereingetragen wurde17). Auf ein-
gehendere Beobachtungen ſind manche der den Thieren beigegebenen
Eigenſchaftsworte zurückzuführen18).

Die Beziehungen wurden aber noch inniger dadurch, daß man
ſich die Thiere menſchenähnlich mit Charakter, Geiſt und Sprache aus-
gerüſtet vorſtellte. „Wie durch ein Mißgeſchick ſind die Thiere nachher
verſtummt oder halten vor den Menſchen, deren Schuld gleichſam dabei

16) Bei Alkman heißt der κηρύλος, dort identiſch mit ἀλκύων dem Eis-
vogel: ἁλυπόρφυρος εἴαρος ὄρνις; 21. Fragm. Die Schwalbe erſcheint als Früh-
lingsbote in den χελιδονίσματα und ſelbſt in Vaſenbildern.
17) Caput apri defero reddens laudes domino. Sandy, Christmas
Carols, LIX, 19.
18) Am reichlichſten iſt mit ſolchen bereits im Alterthum die Nachtigall ver-
ſehen; nur aus den griechiſchen Lyrikern mag z. B. angeführt werden: λιγυφθόγ-
γος, ἰμερόφωνος, πολυκώτιλος, χλωραύχην u. ſ. w. Freilich werden bei Alk-
man auch die Rebhühner (κακκαβῖδες) γλυκυστόποι genannt. 60. Fragm.
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[19/0030] 3. Alter und Verbreitung der Thierfabel. ſonderer Perſonen, des Thiermanns, zuweilen der Thiermutter (zu welcher der junge Sämung kommt), auch der Wolfsmutter. Weiter verbinden ſich dann beſtimmte Thiere mit einzelnen Naturerſcheinun- gen. So kommt nach einem Eddaliede der Wind, der über das Waſſer fährt den Menſchen unſichtbar, von den Schwingen des Jötun Hräs- velg, der in Adlersgeſtalt an des Himmels Ende ſitzt. Die Jahreszei- ten, das Wechſelnde in der unbelebten Natur, werden an das Erſchei- nen und Verſchwinden der Thiere geknüpft, am häufigſten beſtimmter. Der Kuckuck kündet das Jahr 16); ihm folgt bei uns die Nachtigall, während in England, wo die Nachtigall ſeltner iſt, der Kuckuck feſter gehalten wird. Den Winter über herrſcht die Eule. Am nächſten berührt uns aber hier das Verhältniß des Menſchen zu den Thieren. Manche Thiere werden für edler gehalten, als andre, daher auch für würdiger bekämpft zu werden. So iſt vor Allen bei den alten Deutſchen der Bär der Heldenwaffe kampfgerecht. Aehnlicher Ehre wird indeß auch der Eber theilhaft, ſowohl in Deutſchland (Sieg- fried) als in England (Guy von Warwick), vielleicht im Zuſammen- hange mit dem der Freya geweihten Eber des nordiſchen Heidenthums. Dieſer wird zum Juleber, deſſen Kopf früher in Oxford zum Weih- nachtsfeſte in feierlicher Proceſſion hereingetragen wurde 17). Auf ein- gehendere Beobachtungen ſind manche der den Thieren beigegebenen Eigenſchaftsworte zurückzuführen 18). Die Beziehungen wurden aber noch inniger dadurch, daß man ſich die Thiere menſchenähnlich mit Charakter, Geiſt und Sprache aus- gerüſtet vorſtellte. „Wie durch ein Mißgeſchick ſind die Thiere nachher verſtummt oder halten vor den Menſchen, deren Schuld gleichſam dabei 16) Bei Alkman heißt der κηρύλος, dort identiſch mit ἀλκύων dem Eis- vogel: ἁλυπόρφυρος εἴαρος ὄρνις; 21. Fragm. Die Schwalbe erſcheint als Früh- lingsbote in den χελιδονίσματα und ſelbſt in Vaſenbildern. 17) Caput apri defero reddens laudes domino. Sandy, Christmas Carols, LIX, 19. 18) Am reichlichſten iſt mit ſolchen bereits im Alterthum die Nachtigall ver- ſehen; nur aus den griechiſchen Lyrikern mag z. B. angeführt werden: λιγυφθόγ- γος, ἰμερόφωνος, πολυκώτιλος, χλωραύχην u. ſ. w. Freilich werden bei Alk- man auch die Rebhühner (κακκαβῖδες) γλυκυστόποι genannt. 60. Fragm. 2 *

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Zitationshilfe: Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/30>, abgerufen am 26.04.2024.