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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Germanen als Schöpfer einer neuen Kultur.
der Welt, nebst einer Plejade ewig denkwürdiger Städte, aus denen
Petrarca, Ariost, Mantegna, Correggio, Galilei und andere Unsterbliche
hervorgingen, auch die Krone aller Städte zu schenken, Florenz --
jener ehemalige markgräfliche Fleck, der bald der Inbegriff des anti-
römischen, schöpferischen Individualismus werden sollte, die Vater-
stadt Dante's und Giotto's, Donatello's, Leonardo's und Michelangelo's,
die Mutter der Künste, an deren Brüsten auch alle grossen Fernge-
borenen, selbst ein Raffael, erst Vollendung sogen. Jetzt erst konnte
das impotente Rom sich neu schmücken: der Fleiss und der Unter-
nehmungsgeist der Nordländer schüttelte schwere Summen in den
päpstlichen Säckel, zugleich erwachte ihr Genie und stellte jener unter-
gehenden Metropolis, welche im Laufe einer zweitausendjährigen Ge-
schichte nicht einen einzigen künstlerischen Gedanken gehabt hatte,
die unermesslichen Schätze morgendlicher germanischer Erfindungs-
kraft zur Verfügung. Nicht ein rinascimento war das, wie die dilet-
tierenden Belletristen in übertriebener Bewunderung ihres eigenen
litterarischen Zeitvertreibes vermeinten, sondern ein nascimento, die
Geburt eines noch nie Dagewesenen, welches -- wie es in der Kunst
sofort seine eigenen Wege, nicht die Wege der Überlieferung ein-
schlug -- zugleich die Segel aufspannte, um die Oceane zu durch-
forschen, vor denen der griechische wie der römische "Held" sich
gefürchtet hatte, und das Auge bewaffnete, um das bisher undurch-
dringliche Geheimnis der Himmelskörper dem menschlichen Erkennen
zu erschliessen. Sollen wir hier durchaus eine Renaissance erblicken,
so ist es nicht die Wiedergeburt des Altertums, am allerwenigsten des
kunstlosen, philosophiebaren, unwissenschaftlichen Rom, sondern ein-
fach die Wiedergeburt des freien Menschen aus dem Alles nivellierenden
Imperium heraus: Freiheit der politischen, nationalen Organisation im
Gegensatz zur universellen Schablone, Freiheit des Wettbewerbes, der
individuellen Selbständigkeit im Arbeiten, Schaffen, Erstreben, im
Gegensatz zur friedlichen Einförmigkeit der Civitas Dei, Freiheit der
beobachtenden Sinne im Gegensatz zu dogmatischen Deutungen der
Natur, Freiheit des Forschens und Denkens im Gegensatz zu künst-
lichen Systemen nach Art des Thomas von Aquin, Freiheit der künst-
lerischen Erfindung und Gestaltung im Gegensatz zu hieratisch fest-
gesetzten Formeln, zuletzt dann Freiheit des religiösen Glaubens im
Gegensatz zu Gewissenszwang.

Beginne ich nun dieses Kapitel und damit zugleich eine neue
Abteilung des Werkes mit dem Hinweis auf Italien, so geschieht das

Die Germanen als Schöpfer einer neuen Kultur.
der Welt, nebst einer Plejade ewig denkwürdiger Städte, aus denen
Petrarca, Ariost, Mantegna, Correggio, Galilei und andere Unsterbliche
hervorgingen, auch die Krone aller Städte zu schenken, Florenz —
jener ehemalige markgräfliche Fleck, der bald der Inbegriff des anti-
römischen, schöpferischen Individualismus werden sollte, die Vater-
stadt Dante’s und Giotto’s, Donatello’s, Leonardo’s und Michelangelo’s,
die Mutter der Künste, an deren Brüsten auch alle grossen Fernge-
borenen, selbst ein Raffael, erst Vollendung sogen. Jetzt erst konnte
das impotente Rom sich neu schmücken: der Fleiss und der Unter-
nehmungsgeist der Nordländer schüttelte schwere Summen in den
päpstlichen Säckel, zugleich erwachte ihr Genie und stellte jener unter-
gehenden Metropolis, welche im Laufe einer zweitausendjährigen Ge-
schichte nicht einen einzigen künstlerischen Gedanken gehabt hatte,
die unermesslichen Schätze morgendlicher germanischer Erfindungs-
kraft zur Verfügung. Nicht ein rinascimento war das, wie die dilet-
tierenden Belletristen in übertriebener Bewunderung ihres eigenen
litterarischen Zeitvertreibes vermeinten, sondern ein nascimento, die
Geburt eines noch nie Dagewesenen, welches — wie es in der Kunst
sofort seine eigenen Wege, nicht die Wege der Überlieferung ein-
schlug — zugleich die Segel aufspannte, um die Oceane zu durch-
forschen, vor denen der griechische wie der römische »Held« sich
gefürchtet hatte, und das Auge bewaffnete, um das bisher undurch-
dringliche Geheimnis der Himmelskörper dem menschlichen Erkennen
zu erschliessen. Sollen wir hier durchaus eine Renaissance erblicken,
so ist es nicht die Wiedergeburt des Altertums, am allerwenigsten des
kunstlosen, philosophiebaren, unwissenschaftlichen Rom, sondern ein-
fach die Wiedergeburt des freien Menschen aus dem Alles nivellierenden
Imperium heraus: Freiheit der politischen, nationalen Organisation im
Gegensatz zur universellen Schablone, Freiheit des Wettbewerbes, der
individuellen Selbständigkeit im Arbeiten, Schaffen, Erstreben, im
Gegensatz zur friedlichen Einförmigkeit der Civitas Dei, Freiheit der
beobachtenden Sinne im Gegensatz zu dogmatischen Deutungen der
Natur, Freiheit des Forschens und Denkens im Gegensatz zu künst-
lichen Systemen nach Art des Thomas von Aquin, Freiheit der künst-
lerischen Erfindung und Gestaltung im Gegensatz zu hieratisch fest-
gesetzten Formeln, zuletzt dann Freiheit des religiösen Glaubens im
Gegensatz zu Gewissenszwang.

Beginne ich nun dieses Kapitel und damit zugleich eine neue
Abteilung des Werkes mit dem Hinweis auf Italien, so geschieht das

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[695/0174] Die Germanen als Schöpfer einer neuen Kultur. der Welt, nebst einer Plejade ewig denkwürdiger Städte, aus denen Petrarca, Ariost, Mantegna, Correggio, Galilei und andere Unsterbliche hervorgingen, auch die Krone aller Städte zu schenken, Florenz — jener ehemalige markgräfliche Fleck, der bald der Inbegriff des anti- römischen, schöpferischen Individualismus werden sollte, die Vater- stadt Dante’s und Giotto’s, Donatello’s, Leonardo’s und Michelangelo’s, die Mutter der Künste, an deren Brüsten auch alle grossen Fernge- borenen, selbst ein Raffael, erst Vollendung sogen. Jetzt erst konnte das impotente Rom sich neu schmücken: der Fleiss und der Unter- nehmungsgeist der Nordländer schüttelte schwere Summen in den päpstlichen Säckel, zugleich erwachte ihr Genie und stellte jener unter- gehenden Metropolis, welche im Laufe einer zweitausendjährigen Ge- schichte nicht einen einzigen künstlerischen Gedanken gehabt hatte, die unermesslichen Schätze morgendlicher germanischer Erfindungs- kraft zur Verfügung. Nicht ein rinascimento war das, wie die dilet- tierenden Belletristen in übertriebener Bewunderung ihres eigenen litterarischen Zeitvertreibes vermeinten, sondern ein nascimento, die Geburt eines noch nie Dagewesenen, welches — wie es in der Kunst sofort seine eigenen Wege, nicht die Wege der Überlieferung ein- schlug — zugleich die Segel aufspannte, um die Oceane zu durch- forschen, vor denen der griechische wie der römische »Held« sich gefürchtet hatte, und das Auge bewaffnete, um das bisher undurch- dringliche Geheimnis der Himmelskörper dem menschlichen Erkennen zu erschliessen. Sollen wir hier durchaus eine Renaissance erblicken, so ist es nicht die Wiedergeburt des Altertums, am allerwenigsten des kunstlosen, philosophiebaren, unwissenschaftlichen Rom, sondern ein- fach die Wiedergeburt des freien Menschen aus dem Alles nivellierenden Imperium heraus: Freiheit der politischen, nationalen Organisation im Gegensatz zur universellen Schablone, Freiheit des Wettbewerbes, der individuellen Selbständigkeit im Arbeiten, Schaffen, Erstreben, im Gegensatz zur friedlichen Einförmigkeit der Civitas Dei, Freiheit der beobachtenden Sinne im Gegensatz zu dogmatischen Deutungen der Natur, Freiheit des Forschens und Denkens im Gegensatz zu künst- lichen Systemen nach Art des Thomas von Aquin, Freiheit der künst- lerischen Erfindung und Gestaltung im Gegensatz zu hieratisch fest- gesetzten Formeln, zuletzt dann Freiheit des religiösen Glaubens im Gegensatz zu Gewissenszwang. Beginne ich nun dieses Kapitel und damit zugleich eine neue Abteilung des Werkes mit dem Hinweis auf Italien, so geschieht das

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 695. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/174>, abgerufen am 26.04.2024.