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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Der positive Fortschritt.
inneren Erfahrung, als Leben, auf eine individuelle, einen allge-
meingültigen wissenschaftlichen Ausdruck ausschließende Weise ge-
geben ist. Die Metaphysik fügte dem Begriffszusammenhang, der
an der Außenwelt entwickelt war, den hinzu, welcher aus dem
religiösen Leben stammte: Schöpfung aus Nichts, innere Lebendig-
keit und gleichsam Geschichtlichkeit Gottes, Schicksal des Willens.
Und als an dem inneren Widerspruch, der so entsprang, die
Metaphysik des Mittelalters zu Grunde ging, da war und ver-
blieb das persönliche, keiner allgemeingültigen wissenschaftlichen
Begründung fähige Bewußtsein unserer meta-physischen Natur das
Herz der europäischen Gesellschaft; sein Schlag ward empfunden
in den Mystikern, in der Reformation, in jenem gewaltigen
Puritanismus, der in Kant oder Fichte so gut lebt als in Milton
oder Carlyle und welcher einen Theil der Zukunft in sich schließt.



Viertes Kapitel.
Erster Zeitraum des mittelalterlichen Denkens.

Den Ausgangspunkt der Gedankenarbeit des Mittelalters
bildeten die Probleme der drei monotheistischen Religionen. Wir
beginnen mit dem Einfachsten. Judenthum, Christenthum wie
Islam haben ihren Mittelpunkt in einem Willensverhältniß des
Menschen zu Gott. Daher schließen sie eine Reihe von Elementen
in sich, welche der inneren Erfahrung angehören. Da aber unser
Vorstellen an die Bilder der äußeren Erfahrung gebunden ist,
so kann, was dem Erlebniß angehört, nur in dem Zusammen-
hang unseres Bildes der Außenwelt vorgestellt werden. Den
einfachsten Beweis hierfür liefert das Mißlingen jedes Versuchs,
Gott ohne ein Bild des räumlichen Außereinander von dem
eigenen Selbst zu sondern, ihn in Beziehung zu diesem Selbst
ohne ein Element des räumlichen Verhaltens und Einwirkens zu
denken, oder etwa die Vorstellung der Schöpfung ohne Bilder eines

Der poſitive Fortſchritt.
inneren Erfahrung, als Leben, auf eine individuelle, einen allge-
meingültigen wiſſenſchaftlichen Ausdruck ausſchließende Weiſe ge-
geben iſt. Die Metaphyſik fügte dem Begriffszuſammenhang, der
an der Außenwelt entwickelt war, den hinzu, welcher aus dem
religiöſen Leben ſtammte: Schöpfung aus Nichts, innere Lebendig-
keit und gleichſam Geſchichtlichkeit Gottes, Schickſal des Willens.
Und als an dem inneren Widerſpruch, der ſo entſprang, die
Metaphyſik des Mittelalters zu Grunde ging, da war und ver-
blieb das perſönliche, keiner allgemeingültigen wiſſenſchaftlichen
Begründung fähige Bewußtſein unſerer meta-phyſiſchen Natur das
Herz der europäiſchen Geſellſchaft; ſein Schlag ward empfunden
in den Myſtikern, in der Reformation, in jenem gewaltigen
Puritanismus, der in Kant oder Fichte ſo gut lebt als in Milton
oder Carlyle und welcher einen Theil der Zukunft in ſich ſchließt.



Viertes Kapitel.
Erſter Zeitraum des mittelalterlichen Denkens.

Den Ausgangspunkt der Gedankenarbeit des Mittelalters
bildeten die Probleme der drei monotheiſtiſchen Religionen. Wir
beginnen mit dem Einfachſten. Judenthum, Chriſtenthum wie
Islam haben ihren Mittelpunkt in einem Willensverhältniß des
Menſchen zu Gott. Daher ſchließen ſie eine Reihe von Elementen
in ſich, welche der inneren Erfahrung angehören. Da aber unſer
Vorſtellen an die Bilder der äußeren Erfahrung gebunden iſt,
ſo kann, was dem Erlebniß angehört, nur in dem Zuſammen-
hang unſeres Bildes der Außenwelt vorgeſtellt werden. Den
einfachſten Beweis hierfür liefert das Mißlingen jedes Verſuchs,
Gott ohne ein Bild des räumlichen Außereinander von dem
eigenen Selbſt zu ſondern, ihn in Beziehung zu dieſem Selbſt
ohne ein Element des räumlichen Verhaltens und Einwirkens zu
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[345/0368] Der poſitive Fortſchritt. inneren Erfahrung, als Leben, auf eine individuelle, einen allge- meingültigen wiſſenſchaftlichen Ausdruck ausſchließende Weiſe ge- geben iſt. Die Metaphyſik fügte dem Begriffszuſammenhang, der an der Außenwelt entwickelt war, den hinzu, welcher aus dem religiöſen Leben ſtammte: Schöpfung aus Nichts, innere Lebendig- keit und gleichſam Geſchichtlichkeit Gottes, Schickſal des Willens. Und als an dem inneren Widerſpruch, der ſo entſprang, die Metaphyſik des Mittelalters zu Grunde ging, da war und ver- blieb das perſönliche, keiner allgemeingültigen wiſſenſchaftlichen Begründung fähige Bewußtſein unſerer meta-phyſiſchen Natur das Herz der europäiſchen Geſellſchaft; ſein Schlag ward empfunden in den Myſtikern, in der Reformation, in jenem gewaltigen Puritanismus, der in Kant oder Fichte ſo gut lebt als in Milton oder Carlyle und welcher einen Theil der Zukunft in ſich ſchließt. Viertes Kapitel. Erſter Zeitraum des mittelalterlichen Denkens. Den Ausgangspunkt der Gedankenarbeit des Mittelalters bildeten die Probleme der drei monotheiſtiſchen Religionen. Wir beginnen mit dem Einfachſten. Judenthum, Chriſtenthum wie Islam haben ihren Mittelpunkt in einem Willensverhältniß des Menſchen zu Gott. Daher ſchließen ſie eine Reihe von Elementen in ſich, welche der inneren Erfahrung angehören. Da aber unſer Vorſtellen an die Bilder der äußeren Erfahrung gebunden iſt, ſo kann, was dem Erlebniß angehört, nur in dem Zuſammen- hang unſeres Bildes der Außenwelt vorgeſtellt werden. Den einfachſten Beweis hierfür liefert das Mißlingen jedes Verſuchs, Gott ohne ein Bild des räumlichen Außereinander von dem eigenen Selbſt zu ſondern, ihn in Beziehung zu dieſem Selbſt ohne ein Element des räumlichen Verhaltens und Einwirkens zu denken, oder etwa die Vorſtellung der Schöpfung ohne Bilder eines

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 345. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/368>, abgerufen am 26.04.2024.