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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Der Satz vom Grunde ist kein Denkgesetz.

Und blicken wir von Leibniz und Wolff vorwärts, so ist die
im Satze vom Grunde enthaltene Voraussetzung über den logischen
Weltzusammenhang schließlich in dem System von Hegel mit
Verachtung jeder Furcht vor der Paradoxie als Realprinzip der
ganzen Wirklichkeit entwickelt worden. Es hat nicht an Per-
sonen gefehlt, welche diese Voraussetzung in Frage stellen, dagegen
eine Metaphysik beibehalten wollen; so that dies Schopenhauer
in seiner Lehre vom Willen als dem Weltgrunde. Aber jede
Metaphysik dieser Art ist von vorn herein durch einen inneren
Widerspruch in ihrer Grundlage gerichtet. Das über unsere Er-
fahrung Hinausliegende kann nicht einmal durch Analogie ein-
leuchtend gemacht, geschweige denn bewiesen werden, wenn dem
Mittel der Begründung und des Beweises, dem logischen Zu-
sammenhang, die ontologische Gültigkeit und Tragweite genommen
wird.

Der Widerspruch der Wirklichkeit gegen dies Ideal
und die Unhaltbarkeit der Metaphysik.

Das "große Prinzip" vom Grunde (so bezeichnet es
wiederholt Leibniz), die letzte Formel der metaphysischen Erkennt-
niß, ist nun aber kein Denkgesetz, unter welchem unser Intellekt
als unter seinem Fatum stünde. Indem die Metaphysik ihre
Anforderung einer Erkenntniß von dem Subjekt des Welt-
laufs in diesem Satz bis zu ihrer ersten Voraussetzung ver-
folgt, erweist sie ihre
eigene Unmöglichkeit.

Der Satz vom Grunde, in dem Sinne von Leibniz, ist nicht
ein Denkgesetz, er kann nicht neben das Denkgesetz des
Widerspruchs gestellt werden. Denn das Denkgesetz des Wider-
spruchs ist an jedem Punkte unseres Wissens in Geltung; wo wir
etwas behaupten, muß es mit ihm in Einklang sein, und finden
wir eine Behauptung mit ihm in Widerstreit, so ist sie damit für
uns aufgehoben. Sonach steht alles Wissen und alle Gewißheit
unter der Controle dieses Denkgesetzes. Es handelt sich für uns
nie darum, ob wir es anwenden wollen oder nicht, sondern so

Dilthey, Einleitung. 32
Der Satz vom Grunde iſt kein Denkgeſetz.

Und blicken wir von Leibniz und Wolff vorwärts, ſo iſt die
im Satze vom Grunde enthaltene Vorausſetzung über den logiſchen
Weltzuſammenhang ſchließlich in dem Syſtem von Hegel mit
Verachtung jeder Furcht vor der Paradoxie als Realprinzip der
ganzen Wirklichkeit entwickelt worden. Es hat nicht an Per-
ſonen gefehlt, welche dieſe Vorausſetzung in Frage ſtellen, dagegen
eine Metaphyſik beibehalten wollen; ſo that dies Schopenhauer
in ſeiner Lehre vom Willen als dem Weltgrunde. Aber jede
Metaphyſik dieſer Art iſt von vorn herein durch einen inneren
Widerſpruch in ihrer Grundlage gerichtet. Das über unſere Er-
fahrung Hinausliegende kann nicht einmal durch Analogie ein-
leuchtend gemacht, geſchweige denn bewieſen werden, wenn dem
Mittel der Begründung und des Beweiſes, dem logiſchen Zu-
ſammenhang, die ontologiſche Gültigkeit und Tragweite genommen
wird.

Der Widerſpruch der Wirklichkeit gegen dies Ideal
und die Unhaltbarkeit der Metaphyſik.

Das „große Prinzip“ vom Grunde (ſo bezeichnet es
wiederholt Leibniz), die letzte Formel der metaphyſiſchen Erkennt-
niß, iſt nun aber kein Denkgeſetz, unter welchem unſer Intellekt
als unter ſeinem Fatum ſtünde. Indem die Metaphyſik ihre
Anforderung einer Erkenntniß von dem Subjekt des Welt-
laufs in dieſem Satz bis zu ihrer erſten Vorausſetzung ver-
folgt, erweiſt ſie ihre
eigene Unmöglichkeit.

Der Satz vom Grunde, in dem Sinne von Leibniz, iſt nicht
ein Denkgeſetz, er kann nicht neben das Denkgeſetz des
Widerſpruchs geſtellt werden. Denn das Denkgeſetz des Wider-
ſpruchs iſt an jedem Punkte unſeres Wiſſens in Geltung; wo wir
etwas behaupten, muß es mit ihm in Einklang ſein, und finden
wir eine Behauptung mit ihm in Widerſtreit, ſo iſt ſie damit für
uns aufgehoben. Sonach ſteht alles Wiſſen und alle Gewißheit
unter der Controle dieſes Denkgeſetzes. Es handelt ſich für uns
nie darum, ob wir es anwenden wollen oder nicht, ſondern ſo

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[497/0520] Der Satz vom Grunde iſt kein Denkgeſetz. Und blicken wir von Leibniz und Wolff vorwärts, ſo iſt die im Satze vom Grunde enthaltene Vorausſetzung über den logiſchen Weltzuſammenhang ſchließlich in dem Syſtem von Hegel mit Verachtung jeder Furcht vor der Paradoxie als Realprinzip der ganzen Wirklichkeit entwickelt worden. Es hat nicht an Per- ſonen gefehlt, welche dieſe Vorausſetzung in Frage ſtellen, dagegen eine Metaphyſik beibehalten wollen; ſo that dies Schopenhauer in ſeiner Lehre vom Willen als dem Weltgrunde. Aber jede Metaphyſik dieſer Art iſt von vorn herein durch einen inneren Widerſpruch in ihrer Grundlage gerichtet. Das über unſere Er- fahrung Hinausliegende kann nicht einmal durch Analogie ein- leuchtend gemacht, geſchweige denn bewieſen werden, wenn dem Mittel der Begründung und des Beweiſes, dem logiſchen Zu- ſammenhang, die ontologiſche Gültigkeit und Tragweite genommen wird. Der Widerſpruch der Wirklichkeit gegen dies Ideal und die Unhaltbarkeit der Metaphyſik. Das „große Prinzip“ vom Grunde (ſo bezeichnet es wiederholt Leibniz), die letzte Formel der metaphyſiſchen Erkennt- niß, iſt nun aber kein Denkgeſetz, unter welchem unſer Intellekt als unter ſeinem Fatum ſtünde. Indem die Metaphyſik ihre Anforderung einer Erkenntniß von dem Subjekt des Welt- laufs in dieſem Satz bis zu ihrer erſten Vorausſetzung ver- folgt, erweiſt ſie ihre eigene Unmöglichkeit. Der Satz vom Grunde, in dem Sinne von Leibniz, iſt nicht ein Denkgeſetz, er kann nicht neben das Denkgeſetz des Widerſpruchs geſtellt werden. Denn das Denkgeſetz des Wider- ſpruchs iſt an jedem Punkte unſeres Wiſſens in Geltung; wo wir etwas behaupten, muß es mit ihm in Einklang ſein, und finden wir eine Behauptung mit ihm in Widerſtreit, ſo iſt ſie damit für uns aufgehoben. Sonach ſteht alles Wiſſen und alle Gewißheit unter der Controle dieſes Denkgeſetzes. Es handelt ſich für uns nie darum, ob wir es anwenden wollen oder nicht, ſondern ſo Dilthey, Einleitung. 32

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 497. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/520>, abgerufen am 26.04.2024.