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Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868.

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Erörterungen von dem Kreise von Kenntnissen und Erkenntnissen
aus zu unternehmen, wie sie dem Geschichtsfreunde aus seinen Studien
erwachsen? durften diese Studien wagen, eben so wie die Studien der
Natur mit so glänzendem Erfolge gethan, sich auf sich selbst zu stellen?
Wenn der Historiker, mit seiner nur historischen Kenntnissnahme von
dem, was Philosophie, Theologie, Naturbetrachtung u. s. w. erarbeitet
haben, sich in diese schwierigen Probleme einliess, so musste er sich
darüber klar sein, dass er nicht speculativ dürfe sein wollen, sondern
in seiner empirischen Weise, von der einfachen und sicheren Basis des
Gewordenen und Erkannten aus vorzugehen habe.

In den Untersuchungen Wilhelm von Humboldt's fand ich die-
jenigen Gedanken, die, so schien es mir, den Weg erschlossen; er
schien mir ein Bacon für die Geschichtswissenschaften. Von einem
philosophischen System Humboldt's mag nicht zu sprechen sein; aber
was der antike Ausdruck dem höchsten Historiker zuschreibt, e sunesis
politike kai e dunamis ermeneutike, besass er in merkwürdiger Har-
monie; in seinem Denken und Forschen so wie in der grossartigen
Welterfahrung eines thätigen Lebens ergab sich ihm eine Weltanschauung,
welche in der starken und durchgebildeten Empfindung des Ethischen
ihren Schwerpunkt hat. Den practischen und idealen Bildungen des
Menschengeschlechts, namentlich den Sprachen nachgehend erkannte er
die "geistig-sinnliche Natur" desselben und die im Geben und Empfangen
weiterzeugende Kraft ihres Ausdrucks, -- die beiden Momente, in denen
die sittliche Welt, in immer neuen Polarisationen immer neue elektrische
Strömungen erzeugend, gestaltend sich bewegt und sich bewegend gestaltet.

Von diesen Gedanken aus schien es mir möglich, in die Frage
unsrer Wissenschaft tiefer einzudringen, ihr Verfahren und ihre Auf-
gabe zu begründen und aus ihrer erkannten Natur ihre Gestaltung im
Grossen und Ganzen zu entwickeln.

Ich habe dies in den folgenden Paragraphen zu thun versucht. Sie
sind aus Vorlesungen, die ich über Encyclopädie und Methodologie der
Geschichte gehalten, erwachsen. Es kam mir darauf an, in diesem Grund-
riss die Uebersicht des Ganzen zu geben und das Einzelne nur so weit
anzudeuten, als zum Verständniss und für den Zusammenhang noth-
wendig schien.

Jena im Mai 1858.

Erörterungen von dem Kreise von Kenntnissen und Erkenntnissen
aus zu unternehmen, wie sie dem Geschichtsfreunde aus seinen Studien
erwachsen? durften diese Studien wagen, eben so wie die Studien der
Natur mit so glänzendem Erfolge gethan, sich auf sich selbst zu stellen?
Wenn der Historiker, mit seiner nur historischen Kenntnissnahme von
dem, was Philosophie, Theologie, Naturbetrachtung u. s. w. erarbeitet
haben, sich in diese schwierigen Probleme einliess, so musste er sich
darüber klar sein, dass er nicht speculativ dürfe sein wollen, sondern
in seiner empirischen Weise, von der einfachen und sicheren Basis des
Gewordenen und Erkannten aus vorzugehen habe.

In den Untersuchungen Wilhelm von Humboldt’s fand ich die-
jenigen Gedanken, die, so schien es mir, den Weg erschlossen; er
schien mir ein Bacon für die Geschichtswissenschaften. Von einem
philosophischen System Humboldt’s mag nicht zu sprechen sein; aber
was der antike Ausdruck dem höchsten Historiker zuschreibt, ἡ σύνεσις
πολιτικὴ καὶ ἡ δύναμις ἑρμήνευτική, besass er in merkwürdiger Har-
monie; in seinem Denken und Forschen so wie in der grossartigen
Welterfahrung eines thätigen Lebens ergab sich ihm eine Weltanschauung,
welche in der starken und durchgebildeten Empfindung des Ethischen
ihren Schwerpunkt hat. Den practischen und idealen Bildungen des
Menschengeschlechts, namentlich den Sprachen nachgehend erkannte er
die „geistig-sinnliche Natur“ desselben und die im Geben und Empfangen
weiterzeugende Kraft ihres Ausdrucks, — die beiden Momente, in denen
die sittliche Welt, in immer neuen Polarisationen immer neue elektrische
Strömungen erzeugend, gestaltend sich bewegt und sich bewegend gestaltet.

Von diesen Gedanken aus schien es mir möglich, in die Frage
unsrer Wissenschaft tiefer einzudringen, ihr Verfahren und ihre Auf-
gabe zu begründen und aus ihrer erkannten Natur ihre Gestaltung im
Grossen und Ganzen zu entwickeln.

Ich habe dies in den folgenden Paragraphen zu thun versucht. Sie
sind aus Vorlesungen, die ich über Encyclopädie und Methodologie der
Geschichte gehalten, erwachsen. Es kam mir darauf an, in diesem Grund-
riss die Uebersicht des Ganzen zu geben und das Einzelne nur so weit
anzudeuten, als zum Verständniss und für den Zusammenhang noth-
wendig schien.

Jena im Mai 1858.

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[6/0015] Erörterungen von dem Kreise von Kenntnissen und Erkenntnissen aus zu unternehmen, wie sie dem Geschichtsfreunde aus seinen Studien erwachsen? durften diese Studien wagen, eben so wie die Studien der Natur mit so glänzendem Erfolge gethan, sich auf sich selbst zu stellen? Wenn der Historiker, mit seiner nur historischen Kenntnissnahme von dem, was Philosophie, Theologie, Naturbetrachtung u. s. w. erarbeitet haben, sich in diese schwierigen Probleme einliess, so musste er sich darüber klar sein, dass er nicht speculativ dürfe sein wollen, sondern in seiner empirischen Weise, von der einfachen und sicheren Basis des Gewordenen und Erkannten aus vorzugehen habe. In den Untersuchungen Wilhelm von Humboldt’s fand ich die- jenigen Gedanken, die, so schien es mir, den Weg erschlossen; er schien mir ein Bacon für die Geschichtswissenschaften. Von einem philosophischen System Humboldt’s mag nicht zu sprechen sein; aber was der antike Ausdruck dem höchsten Historiker zuschreibt, ἡ σύνεσις πολιτικὴ καὶ ἡ δύναμις ἑρμήνευτική, besass er in merkwürdiger Har- monie; in seinem Denken und Forschen so wie in der grossartigen Welterfahrung eines thätigen Lebens ergab sich ihm eine Weltanschauung, welche in der starken und durchgebildeten Empfindung des Ethischen ihren Schwerpunkt hat. Den practischen und idealen Bildungen des Menschengeschlechts, namentlich den Sprachen nachgehend erkannte er die „geistig-sinnliche Natur“ desselben und die im Geben und Empfangen weiterzeugende Kraft ihres Ausdrucks, — die beiden Momente, in denen die sittliche Welt, in immer neuen Polarisationen immer neue elektrische Strömungen erzeugend, gestaltend sich bewegt und sich bewegend gestaltet. Von diesen Gedanken aus schien es mir möglich, in die Frage unsrer Wissenschaft tiefer einzudringen, ihr Verfahren und ihre Auf- gabe zu begründen und aus ihrer erkannten Natur ihre Gestaltung im Grossen und Ganzen zu entwickeln. Ich habe dies in den folgenden Paragraphen zu thun versucht. Sie sind aus Vorlesungen, die ich über Encyclopädie und Methodologie der Geschichte gehalten, erwachsen. Es kam mir darauf an, in diesem Grund- riss die Uebersicht des Ganzen zu geben und das Einzelne nur so weit anzudeuten, als zum Verständniss und für den Zusammenhang noth- wendig schien. Jena im Mai 1858.

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Zitationshilfe: Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_historik_1868/15>, abgerufen am 26.04.2024.