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Ebbinghaus, Hermann: Über das Gedächtnis. Leipzig, 1885.

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besonderen Wert. Es fragt sich nun, in welchem Zusammen-
hange steht dieses komplicierte Phänomen Erinnerung, welches
das Hervortreten von Vorstellungen aus dem Gedächtnis unter
Umständen begleitet, unter Umständen nicht begleitet, zu dem
sonstigen inneren Leben dieser Vorstellungen. Zur Beant-
wortung dieser Frage liefern unsere Resultate einen gewissen
Beitrag.

Wurden die Reihen durch 8 oder 16 Wiederholungen
eingeprägt, so waren sie mir am nächsten Tage fremd ge-
worden. Ich wusste natürlich indirekt sehr genau, dass es
dieselben sein mussten, die am Tage vorher eingeprägt waren,
aber ich wusste dies eben nur indirekt, ihnen selbst merkte
ich es nicht an, ich erkannte sie nicht wieder. Bei 53 oder
64 Wiederholungen dagegen begrüsste ich sie meist, wenn
nicht sofort, doch sehr bald als alte Bekannte, ich erinnerte
mich ihrer mit voller Bestimmtheit. An den Zeiten für das
Auswendiglernen der Reihen, resp. an den dabei hervor-
tretenden Arbeitsersparnissen, findet sich nichts diesem Unter-
schied Entsprechendes. Sie sind verhältnismässig nicht kleiner,
da wo von Erinnerung keine Rede ist, und verhältnismässig
nicht grösser, da wo diese sehr sicher und lebendig auftritt.
Die Gesetzmässigkeit der Nachwirkung bei vielen Wieder-
holungen tritt nicht merklich heraus aus der Linie, die durch
den Effekt einer geringen Anzahl von Wiederholungen gleich-
sam vorgezeichnet wird, obwohl die Konstatierung dieser Nach-
wirkung im ersten Falle ebenso unzweifelhaft von Erinnerung
begleitet ist, wie sie im zweiten derselben entbehrt.

Ich begnüge mich, auf dieses bemerkenswerte Verhalten
hinzuweisen. Allgemeine Folgerungen daraus würden in der
Luft schweben, solange die Allgemeinheit der Unterlage nicht
genügender dargethan werden kann.


besonderen Wert. Es fragt sich nun, in welchem Zusammen-
hange steht dieses komplicierte Phänomen Erinnerung, welches
das Hervortreten von Vorstellungen aus dem Gedächtnis unter
Umständen begleitet, unter Umständen nicht begleitet, zu dem
sonstigen inneren Leben dieser Vorstellungen. Zur Beant-
wortung dieser Frage liefern unsere Resultate einen gewissen
Beitrag.

Wurden die Reihen durch 8 oder 16 Wiederholungen
eingeprägt, so waren sie mir am nächsten Tage fremd ge-
worden. Ich wuſste natürlich indirekt sehr genau, daſs es
dieselben sein muſsten, die am Tage vorher eingeprägt waren,
aber ich wuſste dies eben nur indirekt, ihnen selbst merkte
ich es nicht an, ich erkannte sie nicht wieder. Bei 53 oder
64 Wiederholungen dagegen begrüſste ich sie meist, wenn
nicht sofort, doch sehr bald als alte Bekannte, ich erinnerte
mich ihrer mit voller Bestimmtheit. An den Zeiten für das
Auswendiglernen der Reihen, resp. an den dabei hervor-
tretenden Arbeitsersparnissen, findet sich nichts diesem Unter-
schied Entsprechendes. Sie sind verhältnismäſsig nicht kleiner,
da wo von Erinnerung keine Rede ist, und verhältnismäſsig
nicht gröſser, da wo diese sehr sicher und lebendig auftritt.
Die Gesetzmäſsigkeit der Nachwirkung bei vielen Wieder-
holungen tritt nicht merklich heraus aus der Linie, die durch
den Effekt einer geringen Anzahl von Wiederholungen gleich-
sam vorgezeichnet wird, obwohl die Konstatierung dieser Nach-
wirkung im ersten Falle ebenso unzweifelhaft von Erinnerung
begleitet ist, wie sie im zweiten derselben entbehrt.

Ich begnüge mich, auf dieses bemerkenswerte Verhalten
hinzuweisen. Allgemeine Folgerungen daraus würden in der
Luft schweben, solange die Allgemeinheit der Unterlage nicht
genügender dargethan werden kann.


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[80/0096] besonderen Wert. Es fragt sich nun, in welchem Zusammen- hange steht dieses komplicierte Phänomen Erinnerung, welches das Hervortreten von Vorstellungen aus dem Gedächtnis unter Umständen begleitet, unter Umständen nicht begleitet, zu dem sonstigen inneren Leben dieser Vorstellungen. Zur Beant- wortung dieser Frage liefern unsere Resultate einen gewissen Beitrag. Wurden die Reihen durch 8 oder 16 Wiederholungen eingeprägt, so waren sie mir am nächsten Tage fremd ge- worden. Ich wuſste natürlich indirekt sehr genau, daſs es dieselben sein muſsten, die am Tage vorher eingeprägt waren, aber ich wuſste dies eben nur indirekt, ihnen selbst merkte ich es nicht an, ich erkannte sie nicht wieder. Bei 53 oder 64 Wiederholungen dagegen begrüſste ich sie meist, wenn nicht sofort, doch sehr bald als alte Bekannte, ich erinnerte mich ihrer mit voller Bestimmtheit. An den Zeiten für das Auswendiglernen der Reihen, resp. an den dabei hervor- tretenden Arbeitsersparnissen, findet sich nichts diesem Unter- schied Entsprechendes. Sie sind verhältnismäſsig nicht kleiner, da wo von Erinnerung keine Rede ist, und verhältnismäſsig nicht gröſser, da wo diese sehr sicher und lebendig auftritt. Die Gesetzmäſsigkeit der Nachwirkung bei vielen Wieder- holungen tritt nicht merklich heraus aus der Linie, die durch den Effekt einer geringen Anzahl von Wiederholungen gleich- sam vorgezeichnet wird, obwohl die Konstatierung dieser Nach- wirkung im ersten Falle ebenso unzweifelhaft von Erinnerung begleitet ist, wie sie im zweiten derselben entbehrt. Ich begnüge mich, auf dieses bemerkenswerte Verhalten hinzuweisen. Allgemeine Folgerungen daraus würden in der Luft schweben, solange die Allgemeinheit der Unterlage nicht genügender dargethan werden kann.

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Zitationshilfe: Ebbinghaus, Hermann: Über das Gedächtnis. Leipzig, 1885, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ebbinghaus_gedaechtnis_1885/96>, abgerufen am 26.04.2024.