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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836.

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dagegen die Gedichte von Immermann. "Ich schenkte
das Exemplar Ihnen gerne, sagte er, allein Sie sehen,
der Verfasser hat es mir zugeschrieben, und so ist es
mir ein werthes Andenken, das ich behalten muß."

Ich machte darauf mit Zelter vor Tisch einen Spa¬
ziergang durch den Park nach Oberweimar. Bey man¬
chen Stellen erinnerte er sich früherer Zeiten und er¬
zählte mir dabey viel von Schiller, Wieland und Her¬
der, mit denen er sehr befreundet gewesen, was er als
einen hohen Gewinn seines Lebens schätzte.

Er sprach darauf viel über Composition und reci¬
tirte dabey mehrere Lieder von Goethe. "Wenn ich ein
Gedicht componiren will, sagte er, so suche ich zuvor
in den Wortverstand einzudringen und mir die Situa¬
tion lebendig zu machen. Ich lese es mir dann laut vor,
bis ich es auswendig weiß, und so, indem ich es mir
immer einmal wieder recitire, kommt die Melodie von
selber."

Wind und Regen nöthigten uns, früher zurück¬
zugehen, als wir gerne wollten. Ich begleitete ihn
bis vor Goethe's Haus, wo er zu Frau von Goethe
hinauf ging, um mit ihr vor Tisch noch Einiges zu
singen.

Darauf um zwey Uhr kam ich zu Tisch. Ich fand
Zelter bereits bey Goethe sitzen und Kupferstiche italie¬
nischer Gegenden betrachten. Frau von Goethe trat
herein und wir gingen zu Tisch. Fräulein Ulrike war

dagegen die Gedichte von Immermann. „Ich ſchenkte
das Exemplar Ihnen gerne, ſagte er, allein Sie ſehen,
der Verfaſſer hat es mir zugeſchrieben, und ſo iſt es
mir ein werthes Andenken, das ich behalten muß.“

Ich machte darauf mit Zelter vor Tiſch einen Spa¬
ziergang durch den Park nach Oberweimar. Bey man¬
chen Stellen erinnerte er ſich fruͤherer Zeiten und er¬
zaͤhlte mir dabey viel von Schiller, Wieland und Her¬
der, mit denen er ſehr befreundet geweſen, was er als
einen hohen Gewinn ſeines Lebens ſchaͤtzte.

Er ſprach darauf viel uͤber Compoſition und reci¬
tirte dabey mehrere Lieder von Goethe. „Wenn ich ein
Gedicht componiren will, ſagte er, ſo ſuche ich zuvor
in den Wortverſtand einzudringen und mir die Situa¬
tion lebendig zu machen. Ich leſe es mir dann laut vor,
bis ich es auswendig weiß, und ſo, indem ich es mir
immer einmal wieder recitire, kommt die Melodie von
ſelber.“

Wind und Regen noͤthigten uns, fruͤher zuruͤck¬
zugehen, als wir gerne wollten. Ich begleitete ihn
bis vor Goethe's Haus, wo er zu Frau von Goethe
hinauf ging, um mit ihr vor Tiſch noch Einiges zu
ſingen.

Darauf um zwey Uhr kam ich zu Tiſch. Ich fand
Zelter bereits bey Goethe ſitzen und Kupferſtiche italie¬
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[100/0120] dagegen die Gedichte von Immermann. „Ich ſchenkte das Exemplar Ihnen gerne, ſagte er, allein Sie ſehen, der Verfaſſer hat es mir zugeſchrieben, und ſo iſt es mir ein werthes Andenken, das ich behalten muß.“ Ich machte darauf mit Zelter vor Tiſch einen Spa¬ ziergang durch den Park nach Oberweimar. Bey man¬ chen Stellen erinnerte er ſich fruͤherer Zeiten und er¬ zaͤhlte mir dabey viel von Schiller, Wieland und Her¬ der, mit denen er ſehr befreundet geweſen, was er als einen hohen Gewinn ſeines Lebens ſchaͤtzte. Er ſprach darauf viel uͤber Compoſition und reci¬ tirte dabey mehrere Lieder von Goethe. „Wenn ich ein Gedicht componiren will, ſagte er, ſo ſuche ich zuvor in den Wortverſtand einzudringen und mir die Situa¬ tion lebendig zu machen. Ich leſe es mir dann laut vor, bis ich es auswendig weiß, und ſo, indem ich es mir immer einmal wieder recitire, kommt die Melodie von ſelber.“ Wind und Regen noͤthigten uns, fruͤher zuruͤck¬ zugehen, als wir gerne wollten. Ich begleitete ihn bis vor Goethe's Haus, wo er zu Frau von Goethe hinauf ging, um mit ihr vor Tiſch noch Einiges zu ſingen. Darauf um zwey Uhr kam ich zu Tiſch. Ich fand Zelter bereits bey Goethe ſitzen und Kupferſtiche italie¬ niſcher Gegenden betrachten. Frau von Goethe trat herein und wir gingen zu Tiſch. Fraͤulein Ulrike war

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Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/120>, abgerufen am 26.04.2024.