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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836.

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Ende nicht allein vollkommen gut geschrieben ist, sondern
auch darin eine superiore Natur und vollendete Bildung
sich in keiner Zeile verläugnet hat.

Ich bin demnach dafür, die Briefe ganz zu geben
von Anfang bis zu Ende, zumal da einzelne bedeutende
Stellen durch das Vorangehende und Nachfolgende oft
erst ihren wahren Glanz und wirksamstes Verständniß
erhalten.

Und genau besehen, und diese Briefe vis-a-vis
einer mannigfaltigen großen Welt betrachtet, wer wollte
sich denn anmaßen und sagen, welche Stelle bedeutend
und also mitzutheilen sey und welche nicht? -- Hat
doch der Grammatiker, der Biograph, der Philosoph,
der Ethiker, der Naturforscher, der Künstler, der Poet,
der Academiker, der Schauspieler, und so ins Unend¬
liche, hat doch jeder seine verschiedenen Interessen, so
daß der eine grade über die Stelle hinauslieset, die der
andere als höchst bedeutend ergreift und sich aneignet.

So findet sich z. B. in dem ersten Hefte von 1807
ein Brief an einen Freund, dessen Sohn sich dem Forst¬
fache widmen will, und dem Goethe die Carriere vor¬
zeichnet, die der junge Mann zu machen hat. Einen
solchen Brief wird vielleicht ein junger Literator über¬
schlagen, während ein Forstmann sicher mit Freuden
bemerken wird, daß der Dichter auch in sein Fach hin¬
eingeblickt, und auch darin guten Rath hat ertheilen
wollen.

Ende nicht allein vollkommen gut geſchrieben iſt, ſondern
auch darin eine ſuperiore Natur und vollendete Bildung
ſich in keiner Zeile verlaͤugnet hat.

Ich bin demnach dafuͤr, die Briefe ganz zu geben
von Anfang bis zu Ende, zumal da einzelne bedeutende
Stellen durch das Vorangehende und Nachfolgende oft
erſt ihren wahren Glanz und wirkſamſtes Verſtaͤndniß
erhalten.

Und genau beſehen, und dieſe Briefe vis-à-vis
einer mannigfaltigen großen Welt betrachtet, wer wollte
ſich denn anmaßen und ſagen, welche Stelle bedeutend
und alſo mitzutheilen ſey und welche nicht? — Hat
doch der Grammatiker, der Biograph, der Philoſoph,
der Ethiker, der Naturforſcher, der Kuͤnſtler, der Poet,
der Academiker, der Schauſpieler, und ſo ins Unend¬
liche, hat doch jeder ſeine verſchiedenen Intereſſen, ſo
daß der eine grade uͤber die Stelle hinauslieſet, die der
andere als hoͤchſt bedeutend ergreift und ſich aneignet.

So findet ſich z. B. in dem erſten Hefte von 1807
ein Brief an einen Freund, deſſen Sohn ſich dem Forſt¬
fache widmen will, und dem Goethe die Carriere vor¬
zeichnet, die der junge Mann zu machen hat. Einen
ſolchen Brief wird vielleicht ein junger Literator uͤber¬
ſchlagen, waͤhrend ein Forſtmann ſicher mit Freuden
bemerken wird, daß der Dichter auch in ſein Fach hin¬
eingeblickt, und auch darin guten Rath hat ertheilen
wollen.

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[254/0264] Ende nicht allein vollkommen gut geſchrieben iſt, ſondern auch darin eine ſuperiore Natur und vollendete Bildung ſich in keiner Zeile verlaͤugnet hat. Ich bin demnach dafuͤr, die Briefe ganz zu geben von Anfang bis zu Ende, zumal da einzelne bedeutende Stellen durch das Vorangehende und Nachfolgende oft erſt ihren wahren Glanz und wirkſamſtes Verſtaͤndniß erhalten. Und genau beſehen, und dieſe Briefe vis-à-vis einer mannigfaltigen großen Welt betrachtet, wer wollte ſich denn anmaßen und ſagen, welche Stelle bedeutend und alſo mitzutheilen ſey und welche nicht? — Hat doch der Grammatiker, der Biograph, der Philoſoph, der Ethiker, der Naturforſcher, der Kuͤnſtler, der Poet, der Academiker, der Schauſpieler, und ſo ins Unend¬ liche, hat doch jeder ſeine verſchiedenen Intereſſen, ſo daß der eine grade uͤber die Stelle hinauslieſet, die der andere als hoͤchſt bedeutend ergreift und ſich aneignet. So findet ſich z. B. in dem erſten Hefte von 1807 ein Brief an einen Freund, deſſen Sohn ſich dem Forſt¬ fache widmen will, und dem Goethe die Carriere vor¬ zeichnet, die der junge Mann zu machen hat. Einen ſolchen Brief wird vielleicht ein junger Literator uͤber¬ ſchlagen, waͤhrend ein Forſtmann ſicher mit Freuden bemerken wird, daß der Dichter auch in ſein Fach hin¬ eingeblickt, und auch darin guten Rath hat ertheilen wollen.

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Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/264>, abgerufen am 26.04.2024.