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Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815.

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nicht zu entbehren oder sonst etwas Nothwendiges
zu verrichten, und sie mußten sich am Ende selber
eingestehen, daß es ihnen beyden eigentlich schwer
fiel, sich, auch nur auf wenige Tage, von ihrer
hiesigen Nachbarschaft zu trennen. Leontin hatte
hier seine eignen Geheimnisse. Er ritt oft ganz ab¬
gelegene Wege in den Wald hinein, wo er nicht
selten halbe Tage lang ausblieb. Niemand wußte,
was er dort vorhabe, und er selber sprach nie da¬
von. Friedrich dagegen besuchte Rosa fast täg¬
lich. Drüben in ihrem schönen Garten hatte die
Liebe ihr tausendfarbiges Zelt aufgeschlagen, ihre
wunderreichen Fernen ausgespannt, ihre Regenbo¬
gen und goldenen Brücken durch die blaue Luft ge¬
schwungen, und rings die Berge und Wälder, wie
einen Zauberkreis, um ihr morgenrothes Reich gezo¬
gen. Er war unaussprechlich glücklich. Leontin be¬
gleitete ihn sehr selten, weil ihm, wie er immer zu
sagen pflegte, seine Schwester wie ein gemahlter
Frühling vorkäme. Friedrich glaubte von jeher
bemerkt zu haben, daß Leontin bey aller seiner Leb¬
haftigkeit doch eigentlich kalt sey, und dachte dabey:
was hilft dir der schönste gemahlte oder natürliche
Frühling! Aus dir selber muß doch die Sonne das
Bild bescheinen, um es zu beleben.

Zu Hause auf Leontins Schlosse wurde Frie¬
drichs
poetischer Rausch durch nichts gestört; denn
was hier Faber Herrliches ersann und fleissig auf¬
schrieb, suchte Leontin auf seine freye, wunderliche
Weise in's Leben einzuführen. Seine Leute moch¬

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nicht zu entbehren oder ſonſt etwas Nothwendiges
zu verrichten, und ſie mußten ſich am Ende ſelber
eingeſtehen, daß es ihnen beyden eigentlich ſchwer
fiel, ſich, auch nur auf wenige Tage, von ihrer
hieſigen Nachbarſchaft zu trennen. Leontin hatte
hier ſeine eignen Geheimniſſe. Er ritt oft ganz ab¬
gelegene Wege in den Wald hinein, wo er nicht
ſelten halbe Tage lang ausblieb. Niemand wußte,
was er dort vorhabe, und er ſelber ſprach nie da¬
von. Friedrich dagegen beſuchte Roſa faſt täg¬
lich. Drüben in ihrem ſchönen Garten hatte die
Liebe ihr tauſendfarbiges Zelt aufgeſchlagen, ihre
wunderreichen Fernen ausgeſpannt, ihre Regenbo¬
gen und goldenen Brücken durch die blaue Luft ge¬
ſchwungen, und rings die Berge und Wälder, wie
einen Zauberkreis, um ihr morgenrothes Reich gezo¬
gen. Er war unausſprechlich glücklich. Leontin be¬
gleitete ihn ſehr ſelten, weil ihm, wie er immer zu
ſagen pflegte, ſeine Schweſter wie ein gemahlter
Frühling vorkäme. Friedrich glaubte von jeher
bemerkt zu haben, daß Leontin bey aller ſeiner Leb¬
haftigkeit doch eigentlich kalt ſey, und dachte dabey:
was hilft dir der ſchönſte gemahlte oder natürliche
Frühling! Aus dir ſelber muß doch die Sonne das
Bild beſcheinen, um es zu beleben.

Zu Hauſe auf Leontins Schloſſe wurde Frie¬
drichs
poetiſcher Rauſch durch nichts geſtört; denn
was hier Faber Herrliches erſann und fleiſſig auf¬
ſchrieb, ſuchte Leontin auf ſeine freye, wunderliche
Weiſe in's Leben einzuführen. Seine Leute moch¬

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[49/0055] nicht zu entbehren oder ſonſt etwas Nothwendiges zu verrichten, und ſie mußten ſich am Ende ſelber eingeſtehen, daß es ihnen beyden eigentlich ſchwer fiel, ſich, auch nur auf wenige Tage, von ihrer hieſigen Nachbarſchaft zu trennen. Leontin hatte hier ſeine eignen Geheimniſſe. Er ritt oft ganz ab¬ gelegene Wege in den Wald hinein, wo er nicht ſelten halbe Tage lang ausblieb. Niemand wußte, was er dort vorhabe, und er ſelber ſprach nie da¬ von. Friedrich dagegen beſuchte Roſa faſt täg¬ lich. Drüben in ihrem ſchönen Garten hatte die Liebe ihr tauſendfarbiges Zelt aufgeſchlagen, ihre wunderreichen Fernen ausgeſpannt, ihre Regenbo¬ gen und goldenen Brücken durch die blaue Luft ge¬ ſchwungen, und rings die Berge und Wälder, wie einen Zauberkreis, um ihr morgenrothes Reich gezo¬ gen. Er war unausſprechlich glücklich. Leontin be¬ gleitete ihn ſehr ſelten, weil ihm, wie er immer zu ſagen pflegte, ſeine Schweſter wie ein gemahlter Frühling vorkäme. Friedrich glaubte von jeher bemerkt zu haben, daß Leontin bey aller ſeiner Leb¬ haftigkeit doch eigentlich kalt ſey, und dachte dabey: was hilft dir der ſchönſte gemahlte oder natürliche Frühling! Aus dir ſelber muß doch die Sonne das Bild beſcheinen, um es zu beleben. Zu Hauſe auf Leontins Schloſſe wurde Frie¬ drichs poetiſcher Rauſch durch nichts geſtört; denn was hier Faber Herrliches erſann und fleiſſig auf¬ ſchrieb, ſuchte Leontin auf ſeine freye, wunderliche Weiſe in's Leben einzuführen. Seine Leute moch¬ 4

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Zitationshilfe: Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_ahnung_1815/55>, abgerufen am 26.04.2024.