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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

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stenz; nur auf ihn häufen sich alle Freuden der Phanta-
sie
und alle Leiden des Gemüths; nur in ihm erschöpft
sich das Herz und erschöpft sich die Phantasie. Christus ist
die Identität von Herz und Phantasie.

Dadurch unterscheidet sich das Christenthum von andern
Religionen, daß in diesen Herz und Phantasie auseinander
gehen, im Christenthum aber zusammenfallen. Die Phantasie
vagirt hier nicht sich selbst überlassen herum; sie folgt dem
Zuge des Herzens; sie beschreibt einen Kreis, dessen Mittel-
punkt das Gemüth ist. Die Phantasie ist hier beschränkt durch
Herzensbedürfnisse, realisirt nur die Wünsche des Gemüths,
bezieht sich nur auf das Eine, was Noth ist; kurz sie hat, we-
nigstens im Ganzen, eine praktische, concentrische, keine aus-
schweifende, nur poetische Tendenz. Die Wunder des Chri-
stenthums, empfangen im Schooße des nothleidenden, bedürf-
tigen Gemüths, keine Producte nur der freien, willkührlichen
Selbstthätigkeit, versetzen uns unmittelbar auf den Boden des
gemeinen, wirklichen Lebens; sie wirken auf den Gemüthsmen-
schen mit unwiderstehlicher Gewalt, weil sie die Nothwendig-
keit des Gemüths für sich haben. Kurz, die Macht der Phan-
tasie ist hier zugleich die Macht des Herzens, die Phantasie
nur das siegreiche, triumphirende Herz. Bei den Orien-
talen, bei den Griechen schwelgte die Phantasie, unbekümmert
um die Noth des Herzens, im Genusse irdischer Pracht und
Herrlichkeit; im Christenthume stieg sie aus dem Pallaste der
Götter herab in die Wohnung der Armuth, wo nur die Noth-
wendigkeit des Bedürfnisses waltet, demüthigte sie sich unter
die Herrschaft des Herzens. Aber je mehr sie sich extensiv be-
schränkte, um so mehr gewann sie an intensiver Stärke. An
der Noth des Herzens scheiterte der Muthwille der olympischen

ſtenz; nur auf ihn häufen ſich alle Freuden der Phanta-
ſie
und alle Leiden des Gemüths; nur in ihm erſchöpft
ſich das Herz und erſchöpft ſich die Phantaſie. Chriſtus iſt
die Identität von Herz und Phantaſie.

Dadurch unterſcheidet ſich das Chriſtenthum von andern
Religionen, daß in dieſen Herz und Phantaſie auseinander
gehen, im Chriſtenthum aber zuſammenfallen. Die Phantaſie
vagirt hier nicht ſich ſelbſt überlaſſen herum; ſie folgt dem
Zuge des Herzens; ſie beſchreibt einen Kreis, deſſen Mittel-
punkt das Gemüth iſt. Die Phantaſie iſt hier beſchränkt durch
Herzensbedürfniſſe, realiſirt nur die Wünſche des Gemüths,
bezieht ſich nur auf das Eine, was Noth iſt; kurz ſie hat, we-
nigſtens im Ganzen, eine praktiſche, concentriſche, keine aus-
ſchweifende, nur poetiſche Tendenz. Die Wunder des Chri-
ſtenthums, empfangen im Schooße des nothleidenden, bedürf-
tigen Gemüths, keine Producte nur der freien, willkührlichen
Selbſtthätigkeit, verſetzen uns unmittelbar auf den Boden des
gemeinen, wirklichen Lebens; ſie wirken auf den Gemüthsmen-
ſchen mit unwiderſtehlicher Gewalt, weil ſie die Nothwendig-
keit des Gemüths für ſich haben. Kurz, die Macht der Phan-
taſie iſt hier zugleich die Macht des Herzens, die Phantaſie
nur das ſiegreiche, triumphirende Herz. Bei den Orien-
talen, bei den Griechen ſchwelgte die Phantaſie, unbekümmert
um die Noth des Herzens, im Genuſſe irdiſcher Pracht und
Herrlichkeit; im Chriſtenthume ſtieg ſie aus dem Pallaſte der
Götter herab in die Wohnung der Armuth, wo nur die Noth-
wendigkeit des Bedürfniſſes waltet, demüthigte ſie ſich unter
die Herrſchaft des Herzens. Aber je mehr ſie ſich extenſiv be-
ſchränkte, um ſo mehr gewann ſie an intenſiver Stärke. An
der Noth des Herzens ſcheiterte der Muthwille der olympiſchen

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[196/0214] ſtenz; nur auf ihn häufen ſich alle Freuden der Phanta- ſie und alle Leiden des Gemüths; nur in ihm erſchöpft ſich das Herz und erſchöpft ſich die Phantaſie. Chriſtus iſt die Identität von Herz und Phantaſie. Dadurch unterſcheidet ſich das Chriſtenthum von andern Religionen, daß in dieſen Herz und Phantaſie auseinander gehen, im Chriſtenthum aber zuſammenfallen. Die Phantaſie vagirt hier nicht ſich ſelbſt überlaſſen herum; ſie folgt dem Zuge des Herzens; ſie beſchreibt einen Kreis, deſſen Mittel- punkt das Gemüth iſt. Die Phantaſie iſt hier beſchränkt durch Herzensbedürfniſſe, realiſirt nur die Wünſche des Gemüths, bezieht ſich nur auf das Eine, was Noth iſt; kurz ſie hat, we- nigſtens im Ganzen, eine praktiſche, concentriſche, keine aus- ſchweifende, nur poetiſche Tendenz. Die Wunder des Chri- ſtenthums, empfangen im Schooße des nothleidenden, bedürf- tigen Gemüths, keine Producte nur der freien, willkührlichen Selbſtthätigkeit, verſetzen uns unmittelbar auf den Boden des gemeinen, wirklichen Lebens; ſie wirken auf den Gemüthsmen- ſchen mit unwiderſtehlicher Gewalt, weil ſie die Nothwendig- keit des Gemüths für ſich haben. Kurz, die Macht der Phan- taſie iſt hier zugleich die Macht des Herzens, die Phantaſie nur das ſiegreiche, triumphirende Herz. Bei den Orien- talen, bei den Griechen ſchwelgte die Phantaſie, unbekümmert um die Noth des Herzens, im Genuſſe irdiſcher Pracht und Herrlichkeit; im Chriſtenthume ſtieg ſie aus dem Pallaſte der Götter herab in die Wohnung der Armuth, wo nur die Noth- wendigkeit des Bedürfniſſes waltet, demüthigte ſie ſich unter die Herrſchaft des Herzens. Aber je mehr ſie ſich extenſiv be- ſchränkte, um ſo mehr gewann ſie an intenſiver Stärke. An der Noth des Herzens ſcheiterte der Muthwille der olympiſchen

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Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/214>, abgerufen am 26.04.2024.