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Frege, Gottlob: Über Sinn und Bedeutung. In: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, N. F., Bd. 100/1 (1892), S. 25-50.

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Über Sinn und Bedeutung.
Bedeutung der Ausdrücke "der Schnittpunkt von a und b" und
"der Schnittpunkt von b und c" dieselbe sein, aber nicht ihr Sinn.
Es würde die Bedeutung von "Abendstern" und "Morgenstern"
dieselbe sein, aber nicht der Sinn.

Aus dem Zusammenhange geht hervor, daß ich hier unter
"Zeichen" und "Namen" irgendeine Bezeichnung verstanden habe,
die einen Eigennamen vertritt, deren Bedeutung also ein bestimmtes
Gegenstand ist (dies Wort im weitesten Umfange genommen), aber
kein Begriff und keine Beziehung, auf die in einem anderen Auf¬
satze näher eingegangen werden soll. Die Bezeichnung eines ein¬
zelnen Gegenstandes kann auch aus mehreren Worten oder sonstigen
Zeichen bestehn. Der Kürze wegen mag jede solche Bezeichnung
Eigenname genannt werden.

Der Sinn eines Eigennamens wird von jedem erfaßt, der die
Sprache oder das Ganze von Bezeichnungen hinreichend kennt, der
er angehört*); damit ist die Bedeutung aber, falls sie vorhanden
ist, doch immer nur einseitig beleuchtet. Zu einer allseitigen Er¬
kenntniß der Bedeutung würde gehören, daß wir von jedem ge¬
gebenen Sinne sogleich angeben könnten, ob er zu ihr gehöre.
Dahin gelangen wir nie.

Die regelmäßige Verknüpfung zwischen dem Zeichen, dessen
Sinne und dessen Bedeutung ist der Art, daß dem Zeichen ein be¬
stimmter Sinn und diesem wieder eine bestimmte Bedeutung ent¬
spricht, während zu einer Bedeutung (einem Gegenstande) nicht
nur ein Zeichen zugehört. Derselbe Sinn hat in verschiedenen
Sprachen, ja auch in derselben verschiedene Ausdrücke. Freilich
kommen Ausnahmen von diesem regelmäßigen Verhalten vor.
Gewiß sollte in einem vollkommenen Ganzen von Zeichen jedem
Ausdrucke ein bestimmter Sinn entsprechen; aber die Volkssprachen

*) Bei einem eigentlichen Eigennamen wie "Aristoteles" können freilich
die Meinungen über den Sinn auseinander gehen. Man könnte z. B. als
solchen annehmen: der Schüler Platos und Lehrer Alexanders des Großen.
Wer dies thut, wird mit dem Satze "Aristoteles war aus Stagira gebürtig"
einen andern Sinn verbinden als einer, der als Sinn dieses Namens an¬
nähme: der aus Stagira gebürtige Lehrer Alexanders des Großen. Solange
nur die Bedeutung dieselbe bleibt, lassen sich diese Schwankungen des Sinnes
ertragen, wiewohl auch sie in dem Lehrgebäude einer beweisenden Wissenschaft
zu vermeiden sind und in einer vollkommenen Sprache nicht vorkommen dürften.

Über Sinn und Bedeutung.
Bedeutung der Ausdrücke „der Schnittpunkt von a und b“ und
„der Schnittpunkt von b und c“ dieſelbe ſein, aber nicht ihr Sinn.
Es würde die Bedeutung von „Abendſtern“ und „Morgenſtern“
dieſelbe ſein, aber nicht der Sinn.

Aus dem Zuſammenhange geht hervor, daß ich hier unter
„Zeichen“ und „Namen“ irgendeine Bezeichnung verſtanden habe,
die einen Eigennamen vertritt, deren Bedeutung alſo ein beſtimmtes
Gegenſtand iſt (dies Wort im weiteſten Umfange genommen), aber
kein Begriff und keine Beziehung, auf die in einem anderen Auf¬
ſatze näher eingegangen werden ſoll. Die Bezeichnung eines ein¬
zelnen Gegenſtandes kann auch aus mehreren Worten oder ſonſtigen
Zeichen beſtehn. Der Kürze wegen mag jede ſolche Bezeichnung
Eigenname genannt werden.

Der Sinn eines Eigennamens wird von jedem erfaßt, der die
Sprache oder das Ganze von Bezeichnungen hinreichend kennt, der
er angehört*); damit iſt die Bedeutung aber, falls ſie vorhanden
iſt, doch immer nur einſeitig beleuchtet. Zu einer allſeitigen Er¬
kenntniß der Bedeutung würde gehören, daß wir von jedem ge¬
gebenen Sinne ſogleich angeben könnten, ob er zu ihr gehöre.
Dahin gelangen wir nie.

Die regelmäßige Verknüpfung zwiſchen dem Zeichen, deſſen
Sinne und deſſen Bedeutung iſt der Art, daß dem Zeichen ein be¬
ſtimmter Sinn und dieſem wieder eine beſtimmte Bedeutung ent¬
ſpricht, während zu einer Bedeutung (einem Gegenſtande) nicht
nur ein Zeichen zugehört. Derſelbe Sinn hat in verſchiedenen
Sprachen, ja auch in derſelben verſchiedene Ausdrücke. Freilich
kommen Ausnahmen von dieſem regelmäßigen Verhalten vor.
Gewiß ſollte in einem vollkommenen Ganzen von Zeichen jedem
Ausdrucke ein beſtimmter Sinn entſprechen; aber die Volksſprachen

*) Bei einem eigentlichen Eigennamen wie „Ariſtoteles“ können freilich
die Meinungen über den Sinn auseinander gehen. Man könnte z. B. als
ſolchen annehmen: der Schüler Platos und Lehrer Alexanders des Großen.
Wer dies thut, wird mit dem Satze „Ariſtoteles war aus Stagira gebürtig“
einen andern Sinn verbinden als einer, der als Sinn dieſes Namens an¬
nähme: der aus Stagira gebürtige Lehrer Alexanders des Großen. Solange
nur die Bedeutung dieſelbe bleibt, laſſen ſich dieſe Schwankungen des Sinnes
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[27/0023] Über Sinn und Bedeutung. Bedeutung der Ausdrücke „der Schnittpunkt von a und b“ und „der Schnittpunkt von b und c“ dieſelbe ſein, aber nicht ihr Sinn. Es würde die Bedeutung von „Abendſtern“ und „Morgenſtern“ dieſelbe ſein, aber nicht der Sinn. Aus dem Zuſammenhange geht hervor, daß ich hier unter „Zeichen“ und „Namen“ irgendeine Bezeichnung verſtanden habe, die einen Eigennamen vertritt, deren Bedeutung alſo ein beſtimmtes Gegenſtand iſt (dies Wort im weiteſten Umfange genommen), aber kein Begriff und keine Beziehung, auf die in einem anderen Auf¬ ſatze näher eingegangen werden ſoll. Die Bezeichnung eines ein¬ zelnen Gegenſtandes kann auch aus mehreren Worten oder ſonſtigen Zeichen beſtehn. Der Kürze wegen mag jede ſolche Bezeichnung Eigenname genannt werden. Der Sinn eines Eigennamens wird von jedem erfaßt, der die Sprache oder das Ganze von Bezeichnungen hinreichend kennt, der er angehört *); damit iſt die Bedeutung aber, falls ſie vorhanden iſt, doch immer nur einſeitig beleuchtet. Zu einer allſeitigen Er¬ kenntniß der Bedeutung würde gehören, daß wir von jedem ge¬ gebenen Sinne ſogleich angeben könnten, ob er zu ihr gehöre. Dahin gelangen wir nie. Die regelmäßige Verknüpfung zwiſchen dem Zeichen, deſſen Sinne und deſſen Bedeutung iſt der Art, daß dem Zeichen ein be¬ ſtimmter Sinn und dieſem wieder eine beſtimmte Bedeutung ent¬ ſpricht, während zu einer Bedeutung (einem Gegenſtande) nicht nur ein Zeichen zugehört. Derſelbe Sinn hat in verſchiedenen Sprachen, ja auch in derſelben verſchiedene Ausdrücke. Freilich kommen Ausnahmen von dieſem regelmäßigen Verhalten vor. Gewiß ſollte in einem vollkommenen Ganzen von Zeichen jedem Ausdrucke ein beſtimmter Sinn entſprechen; aber die Volksſprachen *) Bei einem eigentlichen Eigennamen wie „Ariſtoteles“ können freilich die Meinungen über den Sinn auseinander gehen. Man könnte z. B. als ſolchen annehmen: der Schüler Platos und Lehrer Alexanders des Großen. Wer dies thut, wird mit dem Satze „Ariſtoteles war aus Stagira gebürtig“ einen andern Sinn verbinden als einer, der als Sinn dieſes Namens an¬ nähme: der aus Stagira gebürtige Lehrer Alexanders des Großen. Solange nur die Bedeutung dieſelbe bleibt, laſſen ſich dieſe Schwankungen des Sinnes ertragen, wiewohl auch ſie in dem Lehrgebäude einer beweiſenden Wiſſenſchaft zu vermeiden ſind und in einer vollkommenen Sprache nicht vorkommen dürften.

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Zitationshilfe: Frege, Gottlob: Über Sinn und Bedeutung. In: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, N. F., Bd. 100/1 (1892), S. 25-50, hier S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/frege_sinn_1892/23>, abgerufen am 26.04.2024.