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Gerland, Georg: Über das Aussterben der Naturvölker. Leipzig, 1868.

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Eigenschaften ihre furchtbare Trägheit hervorzuheben, welche z. B. in Mikronesien so weit geht, dass man viel zu indolent ist gegen eine fürchterliche Form des Aussatzes, welche in ihrem Anfang noch heilbar und leicht heilbar in ihrer Entwickelung ebenso qualvoll als absolut tödtlich wird, auch nur das Mindeste zu thun: man sieht dem ersten Anfange, der noch nicht belästigt, mit grösster Seelenruhe zu, bis jede Hülfe zu spät ist (Virgin 2, 103). Diese Faulheit, welche Waitz 1, 350; b, 84, 90 und sonst zur Genüge geschildert hat, ist denn auch ein Grund, weshalb Naturvölker so selten Vorräthe sammeln, ja verhindert sie oft nur auszugehen, um Nahrung zu suchen, wie Grey 2, 262-63 von den Neuholländern sagt; namentlich im Sommer bei Hitze und im Winter bei Kälte und Nässe leiden sie Hunger, die Folge ihrer Trägheit. Beispiele von den Hottentotten zu geben wäre überflüssig. Diese Trägheit schadet ihnen aber noch auf ganz andere Weise. Denn wie Fleiss, Interesse und geistige Anspannung auch körperlich anregen und grössere Kraft und dem ganzen Organismus auch leiblich erhöhteres Leben verleihen, so schwächt umgekehrt fortgesetzte Schlaffheit und geistige Trägheit, wie sie die Naturvölker in so hohem Grade ausser wenn sie Noth treibt bekunden, auch die leibliche Kraft und die Funktionen des Körpers scheinen darunter zu leiden. Wenn nun dieser Zustand durch leibliche und geistige Vererbung (auch der Einfluss geistiger Vererbung ist von grösster Bedeutung und wohl noch nicht überall hinlänglich gewürdigt) sich immer mehr befestigt, so muss er auf das Gedeihen der Naturvölker einen immer gefährlicheren Einfluss haben. Allerdings ist das Ineinandergreifen des leiblichen und geistigen Lebens ein schwieriger und dunkler Punkt, auf den aber gerade deshalb ganz besonders aufmerksam gemacht werden muss.

So entwickelt sich denn aus dieser Trägheit des äusseren auch eine Starrheit und Unbeweglichkeit des geistigen Lebens, die gleichfalls von den schlimmsten Folgen für diese Völker ist, schon dadurch, dass jeder gute Einfluss der Europäer auf sie, jeder Versuch, sie zur Kultur emporzuheben, ausserordentlich erschwert wird. Dadurch abgeschreckt haben auch vorurtheilsfreie Männer, wie Meinicke, behauptet, sie seien zu jeder Kultur unfähig, und doch ist, wie Erfahrungen bei allen Naturvölkern bewiesen haben, nichts falscher, als diese Behauptung. Da nun diese Starrheit mit jeder Generation nach und nach zunimmt, so wirken auch historische Schicksale, Wanderungen und dergl. unendlich viel schwerer auf diese Völker, als sie vor so vielen Jahrtausenden auf die Indogermanen, die Semiten, als sie auch auf die gebildeteren Polynesier und Amerikaner wirkten. Daher versinken sie immer mehr und mehr in Roheit und Stumpfheit, und es ist nicht übertrieben, zu behaupten, dass, auch wenn sie allein auf der Welt wären, ohne jeglichen feindseligen Einfluss von aussen her, sie dennoch, wie jetzt ihre Entwickelung oder

Eigenschaften ihre furchtbare Trägheit hervorzuheben, welche z. B. in Mikronesien so weit geht, dass man viel zu indolent ist gegen eine fürchterliche Form des Aussatzes, welche in ihrem Anfang noch heilbar und leicht heilbar in ihrer Entwickelung ebenso qualvoll als absolut tödtlich wird, auch nur das Mindeste zu thun: man sieht dem ersten Anfange, der noch nicht belästigt, mit grösster Seelenruhe zu, bis jede Hülfe zu spät ist (Virgin 2, 103). Diese Faulheit, welche Waitz 1, 350; b, 84, 90 und sonst zur Genüge geschildert hat, ist denn auch ein Grund, weshalb Naturvölker so selten Vorräthe sammeln, ja verhindert sie oft nur auszugehen, um Nahrung zu suchen, wie Grey 2, 262-63 von den Neuholländern sagt; namentlich im Sommer bei Hitze und im Winter bei Kälte und Nässe leiden sie Hunger, die Folge ihrer Trägheit. Beispiele von den Hottentotten zu geben wäre überflüssig. Diese Trägheit schadet ihnen aber noch auf ganz andere Weise. Denn wie Fleiss, Interesse und geistige Anspannung auch körperlich anregen und grössere Kraft und dem ganzen Organismus auch leiblich erhöhteres Leben verleihen, so schwächt umgekehrt fortgesetzte Schlaffheit und geistige Trägheit, wie sie die Naturvölker in so hohem Grade ausser wenn sie Noth treibt bekunden, auch die leibliche Kraft und die Funktionen des Körpers scheinen darunter zu leiden. Wenn nun dieser Zustand durch leibliche und geistige Vererbung (auch der Einfluss geistiger Vererbung ist von grösster Bedeutung und wohl noch nicht überall hinlänglich gewürdigt) sich immer mehr befestigt, so muss er auf das Gedeihen der Naturvölker einen immer gefährlicheren Einfluss haben. Allerdings ist das Ineinandergreifen des leiblichen und geistigen Lebens ein schwieriger und dunkler Punkt, auf den aber gerade deshalb ganz besonders aufmerksam gemacht werden muss.

So entwickelt sich denn aus dieser Trägheit des äusseren auch eine Starrheit und Unbeweglichkeit des geistigen Lebens, die gleichfalls von den schlimmsten Folgen für diese Völker ist, schon dadurch, dass jeder gute Einfluss der Europäer auf sie, jeder Versuch, sie zur Kultur emporzuheben, ausserordentlich erschwert wird. Dadurch abgeschreckt haben auch vorurtheilsfreie Männer, wie Meinicke, behauptet, sie seien zu jeder Kultur unfähig, und doch ist, wie Erfahrungen bei allen Naturvölkern bewiesen haben, nichts falscher, als diese Behauptung. Da nun diese Starrheit mit jeder Generation nach und nach zunimmt, so wirken auch historische Schicksale, Wanderungen und dergl. unendlich viel schwerer auf diese Völker, als sie vor so vielen Jahrtausenden auf die Indogermanen, die Semiten, als sie auch auf die gebildeteren Polynesier und Amerikaner wirkten. Daher versinken sie immer mehr und mehr in Roheit und Stumpfheit, und es ist nicht übertrieben, zu behaupten, dass, auch wenn sie allein auf der Welt wären, ohne jeglichen feindseligen Einfluss von aussen her, sie dennoch, wie jetzt ihre Entwickelung oder

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 heilbar und leicht heilbar in ihrer Entwickelung ebenso qualvoll
 als absolut tödtlich wird, auch nur das Mindeste zu thun: man
 sieht dem ersten Anfange, der noch nicht belästigt, mit
 grösster Seelenruhe zu, bis jede Hülfe zu spät ist
 (Virgin 2, 103). Diese Faulheit, welche Waitz 1, 350; b, 84, 90 und
 sonst zur Genüge geschildert hat, ist denn auch ein Grund,
 weshalb Naturvölker so selten Vorräthe sammeln, ja
 verhindert sie oft nur auszugehen, um Nahrung zu suchen, wie Grey
 2, 262-63 von den Neuholländern sagt; namentlich im Sommer bei
 Hitze und im Winter bei Kälte und Nässe leiden sie
 Hunger, die Folge ihrer Trägheit. Beispiele von den
 Hottentotten zu geben wäre überflüssig. Diese
 Trägheit schadet ihnen aber noch auf ganz andere Weise. Denn
 wie Fleiss, Interesse und geistige Anspannung auch körperlich
 anregen und grössere Kraft und dem ganzen Organismus auch
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 sie die Naturvölker in so hohem Grade ausser wenn sie Noth
 treibt bekunden, auch die leibliche Kraft und die Funktionen des
 Körpers scheinen darunter zu leiden. Wenn nun dieser Zustand
 durch leibliche und geistige Vererbung (auch der Einfluss geistiger
 Vererbung ist von grösster Bedeutung und wohl noch nicht
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 befestigt, so muss er auf das Gedeihen der Naturvölker einen
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 ausserordentlich erschwert wird. Dadurch abgeschreckt haben auch
 vorurtheilsfreie Männer, wie Meinicke, behauptet, sie seien zu
 jeder Kultur unfähig, und doch ist, wie Erfahrungen bei allen
 Naturvölkern bewiesen haben, nichts falscher, als diese
 Behauptung. Da nun diese Starrheit mit jeder Generation nach und
 nach zunimmt, so wirken auch historische Schicksale, Wanderungen
 und dergl. unendlich viel schwerer auf diese Völker, als sie
 vor so vielen Jahrtausenden auf die Indogermanen, die Semiten, als
 sie auch auf die gebildeteren Polynesier und Amerikaner wirkten.
 Daher versinken sie immer mehr und mehr in Roheit und Stumpfheit,
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[0049] Eigenschaften ihre furchtbare Trägheit hervorzuheben, welche z. B. in Mikronesien so weit geht, dass man viel zu indolent ist gegen eine fürchterliche Form des Aussatzes, welche in ihrem Anfang noch heilbar und leicht heilbar in ihrer Entwickelung ebenso qualvoll als absolut tödtlich wird, auch nur das Mindeste zu thun: man sieht dem ersten Anfange, der noch nicht belästigt, mit grösster Seelenruhe zu, bis jede Hülfe zu spät ist (Virgin 2, 103). Diese Faulheit, welche Waitz 1, 350; b, 84, 90 und sonst zur Genüge geschildert hat, ist denn auch ein Grund, weshalb Naturvölker so selten Vorräthe sammeln, ja verhindert sie oft nur auszugehen, um Nahrung zu suchen, wie Grey 2, 262-63 von den Neuholländern sagt; namentlich im Sommer bei Hitze und im Winter bei Kälte und Nässe leiden sie Hunger, die Folge ihrer Trägheit. Beispiele von den Hottentotten zu geben wäre überflüssig. Diese Trägheit schadet ihnen aber noch auf ganz andere Weise. Denn wie Fleiss, Interesse und geistige Anspannung auch körperlich anregen und grössere Kraft und dem ganzen Organismus auch leiblich erhöhteres Leben verleihen, so schwächt umgekehrt fortgesetzte Schlaffheit und geistige Trägheit, wie sie die Naturvölker in so hohem Grade ausser wenn sie Noth treibt bekunden, auch die leibliche Kraft und die Funktionen des Körpers scheinen darunter zu leiden. Wenn nun dieser Zustand durch leibliche und geistige Vererbung (auch der Einfluss geistiger Vererbung ist von grösster Bedeutung und wohl noch nicht überall hinlänglich gewürdigt) sich immer mehr befestigt, so muss er auf das Gedeihen der Naturvölker einen immer gefährlicheren Einfluss haben. Allerdings ist das Ineinandergreifen des leiblichen und geistigen Lebens ein schwieriger und dunkler Punkt, auf den aber gerade deshalb ganz besonders aufmerksam gemacht werden muss. So entwickelt sich denn aus dieser Trägheit des äusseren auch eine Starrheit und Unbeweglichkeit des geistigen Lebens, die gleichfalls von den schlimmsten Folgen für diese Völker ist, schon dadurch, dass jeder gute Einfluss der Europäer auf sie, jeder Versuch, sie zur Kultur emporzuheben, ausserordentlich erschwert wird. Dadurch abgeschreckt haben auch vorurtheilsfreie Männer, wie Meinicke, behauptet, sie seien zu jeder Kultur unfähig, und doch ist, wie Erfahrungen bei allen Naturvölkern bewiesen haben, nichts falscher, als diese Behauptung. Da nun diese Starrheit mit jeder Generation nach und nach zunimmt, so wirken auch historische Schicksale, Wanderungen und dergl. unendlich viel schwerer auf diese Völker, als sie vor so vielen Jahrtausenden auf die Indogermanen, die Semiten, als sie auch auf die gebildeteren Polynesier und Amerikaner wirkten. Daher versinken sie immer mehr und mehr in Roheit und Stumpfheit, und es ist nicht übertrieben, zu behaupten, dass, auch wenn sie allein auf der Welt wären, ohne jeglichen feindseligen Einfluss von aussen her, sie dennoch, wie jetzt ihre Entwickelung oder

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Zitationshilfe: Gerland, Georg: Über das Aussterben der Naturvölker. Leipzig, 1868, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gerland_naturvoelker_1868/49>, abgerufen am 26.04.2024.