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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810.

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865.

Ueberhaupt strebten die Menschen in der Kunst in-
stinctmäßig jederzeit nach Farbe. Man darf nur täg-
lich beobachten, wie Zeichenlustige von Tusche oder
schwarzer Kreide auf weiß Papier zu farbigem Papier
sich steigern; dann verschiedene Kreiden anwenden und
endlich ins Pastell übergehen. Man sah in un-
sern Zeiten Gesichter mit Silberstift gezeichnet, durch
rothe Bäckchen belebt und mit farbigen Kleidern ange-
than; ja Silhouetten in bunten Uniformen. Paolo
Uccello malte farbige Landschaften zu farblosen Fi-
guren.

866.

Selbst die Bildhauerey der Alten konnte diesem
Trieb nicht widerstehen. Die Aegypter strichen ihre
Basreliefs an. Den Statuen gab man Augen von
farbigen Steinen. Zu marmornen Köpfen und Extre-
mitäten fügte man porphyrne Gewänder, so wie man
bunte Kalksinter zum Sturze der Brustbilder nahm.
Die Jesuiten verfehlten nicht, ihren heiligen Aloysius in
Rom auf diese Weise zusammen zu setzen, und die neuste
Bildhauerey unterscheidet das Fleisch durch eine Tinc-
tur von den Gewändern.


865.

Ueberhaupt ſtrebten die Menſchen in der Kunſt in-
ſtinctmaͤßig jederzeit nach Farbe. Man darf nur taͤg-
lich beobachten, wie Zeichenluſtige von Tuſche oder
ſchwarzer Kreide auf weiß Papier zu farbigem Papier
ſich ſteigern; dann verſchiedene Kreiden anwenden und
endlich ins Paſtell uͤbergehen. Man ſah in un-
ſern Zeiten Geſichter mit Silberſtift gezeichnet, durch
rothe Baͤckchen belebt und mit farbigen Kleidern ange-
than; ja Silhouetten in bunten Uniformen. Paolo
Uccello malte farbige Landſchaften zu farbloſen Fi-
guren.

866.

Selbſt die Bildhauerey der Alten konnte dieſem
Trieb nicht widerſtehen. Die Aegypter ſtrichen ihre
Basreliefs an. Den Statuen gab man Augen von
farbigen Steinen. Zu marmornen Koͤpfen und Extre-
mitaͤten fuͤgte man porphyrne Gewaͤnder, ſo wie man
bunte Kalkſinter zum Sturze der Bruſtbilder nahm.
Die Jeſuiten verfehlten nicht, ihren heiligen Aloyſius in
Rom auf dieſe Weiſe zuſammen zu ſetzen, und die neuſte
Bildhauerey unterſcheidet das Fleiſch durch eine Tinc-
tur von den Gewaͤndern.


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[320/0374] 865. Ueberhaupt ſtrebten die Menſchen in der Kunſt in- ſtinctmaͤßig jederzeit nach Farbe. Man darf nur taͤg- lich beobachten, wie Zeichenluſtige von Tuſche oder ſchwarzer Kreide auf weiß Papier zu farbigem Papier ſich ſteigern; dann verſchiedene Kreiden anwenden und endlich ins Paſtell uͤbergehen. Man ſah in un- ſern Zeiten Geſichter mit Silberſtift gezeichnet, durch rothe Baͤckchen belebt und mit farbigen Kleidern ange- than; ja Silhouetten in bunten Uniformen. Paolo Uccello malte farbige Landſchaften zu farbloſen Fi- guren. 866. Selbſt die Bildhauerey der Alten konnte dieſem Trieb nicht widerſtehen. Die Aegypter ſtrichen ihre Basreliefs an. Den Statuen gab man Augen von farbigen Steinen. Zu marmornen Koͤpfen und Extre- mitaͤten fuͤgte man porphyrne Gewaͤnder, ſo wie man bunte Kalkſinter zum Sturze der Bruſtbilder nahm. Die Jeſuiten verfehlten nicht, ihren heiligen Aloyſius in Rom auf dieſe Weiſe zuſammen zu ſetzen, und die neuſte Bildhauerey unterſcheidet das Fleiſch durch eine Tinc- tur von den Gewaͤndern.

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810, S. 320. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre01_1810/374>, abgerufen am 26.04.2024.