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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810.

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wenigstens bey einigen ganz reinen Farben. Be-
trachtet man ein reines Gelb, so könnte man sich die
Vorstellung gefallen lassen, daß dieses reine Gelb die
gelben Strahlen allein von sich schickt; eben so mit
ganz reinem Blau. Allein der Verfasser hütet sich
wohl, dieses zu behaupten, weil er sich abermals eine
Hinterthüre auflassen muß, um einem dringenden
Gegner zu entgehen, wie man bald sehen wird.

612.

Mennige wirft die am wenigsten refrangiblen Strahlen
am häufigsten zurück und erscheint deswegen roth. Veilchen
werfen die refrangibelsten Strahlen am häufigsten zurück
und haben ihre Farbe daher; und so verhält es sich mit den
übrigen Körpern. Jeder Körper wirft die Strahlen seiner ei-
genen Farbe häufiger zurück, als die übrigen Strahlen; und
von ihrem Uebermaße und Vorherrschaft im zurückgeworfenen
Licht hat er seine Farbe.

613.

Die Newtonische Theorie hat das Eigene, daß
sie sehr leicht zu lernen und sehr schwer anzuwenden
ist. Man darf nur die erste Proposition, womit die
Optik anfängt, gelten lassen oder gläubig in sich auf-
nehmen; so ist man auf ewig über das Farbenwesen
beruhigt. Schreitet man aber zur nähern Untersu-
chung, will man die Hypothese auf die Phänomene
anwenden; dann geht die Noth erst an; dann kom-
men Vor- und Nachklagen, Limitationen, Restrictio-
nen, Reservationen kommen zum Vorschein, bis sich

wenigſtens bey einigen ganz reinen Farben. Be-
trachtet man ein reines Gelb, ſo koͤnnte man ſich die
Vorſtellung gefallen laſſen, daß dieſes reine Gelb die
gelben Strahlen allein von ſich ſchickt; eben ſo mit
ganz reinem Blau. Allein der Verfaſſer huͤtet ſich
wohl, dieſes zu behaupten, weil er ſich abermals eine
Hinterthuͤre auflaſſen muß, um einem dringenden
Gegner zu entgehen, wie man bald ſehen wird.

612.

Mennige wirft die am wenigſten refrangiblen Strahlen
am haͤufigſten zuruͤck und erſcheint deswegen roth. Veilchen
werfen die refrangibelſten Strahlen am haͤufigſten zuruͤck
und haben ihre Farbe daher; und ſo verhaͤlt es ſich mit den
uͤbrigen Koͤrpern. Jeder Koͤrper wirft die Strahlen ſeiner ei-
genen Farbe haͤufiger zuruͤck, als die uͤbrigen Strahlen; und
von ihrem Uebermaße und Vorherrſchaft im zuruͤckgeworfenen
Licht hat er ſeine Farbe.

613.

Die Newtoniſche Theorie hat das Eigene, daß
ſie ſehr leicht zu lernen und ſehr ſchwer anzuwenden
iſt. Man darf nur die erſte Propoſition, womit die
Optik anfaͤngt, gelten laſſen oder glaͤubig in ſich auf-
nehmen; ſo iſt man auf ewig uͤber das Farbenweſen
beruhigt. Schreitet man aber zur naͤhern Unterſu-
chung, will man die Hypotheſe auf die Phaͤnomene
anwenden; dann geht die Noth erſt an; dann kom-
men Vor- und Nachklagen, Limitationen, Reſtrictio-
nen, Reſervationen kommen zum Vorſchein, bis ſich

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[624/0678] wenigſtens bey einigen ganz reinen Farben. Be- trachtet man ein reines Gelb, ſo koͤnnte man ſich die Vorſtellung gefallen laſſen, daß dieſes reine Gelb die gelben Strahlen allein von ſich ſchickt; eben ſo mit ganz reinem Blau. Allein der Verfaſſer huͤtet ſich wohl, dieſes zu behaupten, weil er ſich abermals eine Hinterthuͤre auflaſſen muß, um einem dringenden Gegner zu entgehen, wie man bald ſehen wird. 612. Mennige wirft die am wenigſten refrangiblen Strahlen am haͤufigſten zuruͤck und erſcheint deswegen roth. Veilchen werfen die refrangibelſten Strahlen am haͤufigſten zuruͤck und haben ihre Farbe daher; und ſo verhaͤlt es ſich mit den uͤbrigen Koͤrpern. Jeder Koͤrper wirft die Strahlen ſeiner ei- genen Farbe haͤufiger zuruͤck, als die uͤbrigen Strahlen; und von ihrem Uebermaße und Vorherrſchaft im zuruͤckgeworfenen Licht hat er ſeine Farbe. 613. Die Newtoniſche Theorie hat das Eigene, daß ſie ſehr leicht zu lernen und ſehr ſchwer anzuwenden iſt. Man darf nur die erſte Propoſition, womit die Optik anfaͤngt, gelten laſſen oder glaͤubig in ſich auf- nehmen; ſo iſt man auf ewig uͤber das Farbenweſen beruhigt. Schreitet man aber zur naͤhern Unterſu- chung, will man die Hypotheſe auf die Phaͤnomene anwenden; dann geht die Noth erſt an; dann kom- men Vor- und Nachklagen, Limitationen, Reſtrictio- nen, Reſervationen kommen zum Vorſchein, bis ſich

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810, S. 624. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre01_1810/678>, abgerufen am 26.04.2024.