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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

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was wir als Hauptgrund der Farbenlehre anerkennen,
was wir als die Hauptmomente derselben verehren;
so bleibt uns nun die Pflicht, dem Natur- und Ge-
schichtsfreunde vor Augen zu legen, wie in der neuern
Zeit die platonischen und aristotelischen Ueberzeugungen
wieder emporgehoben, wie sie verdrängt oder genutzt,
wie sie vervollständigt oder verstümmelt werden moch-
ten, und wie, durch ein seltsames Schwanken älterer
und neuerer Meynungsweisen, die Sache von einer
Seite zur andern geschoben, und zuletzt am Anfang des
vorigen Jahrhunderts völlig verschoben worden.


Autorität.

Indem wir nun von Ueberlieferung sprechen, sind
wir unmittelbar aufgefordert, zugleich von Autorität zu
reden. Denn genau betrachtet, so ist jede Autorität
eine Art Ueberlieferung. Wir lassen die Existenz, die
Würde, die Gewalt von irgend einem Dinge gelten,
ohne daß wir seinen Ursprung, sein Herkommen, seinen
Werth deutlich einsehen und erkennen. So schätzen
und ehren wir z. B. die edlen Metalle beym Gebrauch
des gemeinen Lebens; doch ihre großen physischen und
chemischen Verdienste sind uns dabey selten gegenwärtig.
So hat die Vernunft und das ihr verwandte Gewissen
eine ungeheure Autorität, weil sie unergründlich sind;
ingleichen das was wir mit dem Namen Genie be-
zeichnen. Dagegen kann man dem Verstand gar keine

was wir als Hauptgrund der Farbenlehre anerkennen,
was wir als die Hauptmomente derſelben verehren;
ſo bleibt uns nun die Pflicht, dem Natur- und Ge-
ſchichtsfreunde vor Augen zu legen, wie in der neuern
Zeit die platoniſchen und ariſtoteliſchen Ueberzeugungen
wieder emporgehoben, wie ſie verdraͤngt oder genutzt,
wie ſie vervollſtaͤndigt oder verſtuͤmmelt werden moch-
ten, und wie, durch ein ſeltſames Schwanken aͤlterer
und neuerer Meynungsweiſen, die Sache von einer
Seite zur andern geſchoben, und zuletzt am Anfang des
vorigen Jahrhunderts voͤllig verſchoben worden.


Autoritaͤt.

Indem wir nun von Ueberlieferung ſprechen, ſind
wir unmittelbar aufgefordert, zugleich von Autoritaͤt zu
reden. Denn genau betrachtet, ſo iſt jede Autoritaͤt
eine Art Ueberlieferung. Wir laſſen die Exiſtenz, die
Wuͤrde, die Gewalt von irgend einem Dinge gelten,
ohne daß wir ſeinen Urſprung, ſein Herkommen, ſeinen
Werth deutlich einſehen und erkennen. So ſchaͤtzen
und ehren wir z. B. die edlen Metalle beym Gebrauch
des gemeinen Lebens; doch ihre großen phyſiſchen und
chemiſchen Verdienſte ſind uns dabey ſelten gegenwaͤrtig.
So hat die Vernunft und das ihr verwandte Gewiſſen
eine ungeheure Autoritaͤt, weil ſie unergruͤndlich ſind;
ingleichen das was wir mit dem Namen Genie be-
zeichnen. Dagegen kann man dem Verſtand gar keine

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[144/0178] was wir als Hauptgrund der Farbenlehre anerkennen, was wir als die Hauptmomente derſelben verehren; ſo bleibt uns nun die Pflicht, dem Natur- und Ge- ſchichtsfreunde vor Augen zu legen, wie in der neuern Zeit die platoniſchen und ariſtoteliſchen Ueberzeugungen wieder emporgehoben, wie ſie verdraͤngt oder genutzt, wie ſie vervollſtaͤndigt oder verſtuͤmmelt werden moch- ten, und wie, durch ein ſeltſames Schwanken aͤlterer und neuerer Meynungsweiſen, die Sache von einer Seite zur andern geſchoben, und zuletzt am Anfang des vorigen Jahrhunderts voͤllig verſchoben worden. Autoritaͤt. Indem wir nun von Ueberlieferung ſprechen, ſind wir unmittelbar aufgefordert, zugleich von Autoritaͤt zu reden. Denn genau betrachtet, ſo iſt jede Autoritaͤt eine Art Ueberlieferung. Wir laſſen die Exiſtenz, die Wuͤrde, die Gewalt von irgend einem Dinge gelten, ohne daß wir ſeinen Urſprung, ſein Herkommen, ſeinen Werth deutlich einſehen und erkennen. So ſchaͤtzen und ehren wir z. B. die edlen Metalle beym Gebrauch des gemeinen Lebens; doch ihre großen phyſiſchen und chemiſchen Verdienſte ſind uns dabey ſelten gegenwaͤrtig. So hat die Vernunft und das ihr verwandte Gewiſſen eine ungeheure Autoritaͤt, weil ſie unergruͤndlich ſind; ingleichen das was wir mit dem Namen Genie be- zeichnen. Dagegen kann man dem Verſtand gar keine

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/178>, abgerufen am 26.04.2024.