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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795.

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Man war nicht lange gefahren, als der
Schiffer stille hielt, um mit Erlaubniß der
Gesellschaft noch jemand einzunehmen, der
am Ufer stand, und gewinkt hatte.

Das ist eben noch, was wir brauchten,
rief Philine, ein blinder Passagier fehlte
noch der Reisegesellschaft.

Ein wohlgebildeter Mann stieg in das
Schiff, den man an seiner Kleidung und sei¬
ner ehrwürdigen Miene wohl für einen Geist¬
lichen hätte nehmen können. Er begrüßte
die Gesellschaft, die ihm nach ihrer Weise
dankte, und ihn bald mit ihrem Scherz be¬
kannt machte. Er nahm darauf die Rolle
eines Landgeistlichen an, die er zur Verwun¬
derung aller auf das artigste durchsetzte, in¬
dem er bald ermahnte, bald Histörchen er¬
zählte, einige schwache Seiten blicken ließ,
und sich doch im Respekt zu erhalten wußte.

Indessen hatte jeder, der nur ein einzi¬

Man war nicht lange gefahren, als der
Schiffer ſtille hielt, um mit Erlaubniß der
Geſellſchaft noch jemand einzunehmen, der
am Ufer ſtand, und gewinkt hatte.

Das iſt eben noch, was wir brauchten,
rief Philine, ein blinder Paſſagier fehlte
noch der Reiſegeſellſchaft.

Ein wohlgebildeter Mann ſtieg in das
Schiff, den man an ſeiner Kleidung und ſei¬
ner ehrwürdigen Miene wohl für einen Geiſt¬
lichen hätte nehmen können. Er begrüßte
die Geſellſchaft, die ihm nach ihrer Weiſe
dankte, und ihn bald mit ihrem Scherz be¬
kannt machte. Er nahm darauf die Rolle
eines Landgeiſtlichen an, die er zur Verwun¬
derung aller auf das artigſte durchſetzte, in¬
dem er bald ermahnte, bald Hiſtörchen er¬
zählte, einige ſchwache Seiten blicken ließ,
und ſich doch im Reſpekt zu erhalten wußte.

Indeſſen hatte jeder, der nur ein einzi¬

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[299/0307] Man war nicht lange gefahren, als der Schiffer ſtille hielt, um mit Erlaubniß der Geſellſchaft noch jemand einzunehmen, der am Ufer ſtand, und gewinkt hatte. Das iſt eben noch, was wir brauchten, rief Philine, ein blinder Paſſagier fehlte noch der Reiſegeſellſchaft. Ein wohlgebildeter Mann ſtieg in das Schiff, den man an ſeiner Kleidung und ſei¬ ner ehrwürdigen Miene wohl für einen Geiſt¬ lichen hätte nehmen können. Er begrüßte die Geſellſchaft, die ihm nach ihrer Weiſe dankte, und ihn bald mit ihrem Scherz be¬ kannt machte. Er nahm darauf die Rolle eines Landgeiſtlichen an, die er zur Verwun¬ derung aller auf das artigſte durchſetzte, in¬ dem er bald ermahnte, bald Hiſtörchen er¬ zählte, einige ſchwache Seiten blicken ließ, und ſich doch im Reſpekt zu erhalten wußte. Indeſſen hatte jeder, der nur ein einzi¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795, S. 299. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre01_1795/307>, abgerufen am 24.05.2024.