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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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macht. Fühle Kerl, bey diesen troknen Worten, mit
welchem Unsinne mich die Geschichte ergriffen hat,
da mir sie Albert eben so gelassen erzählte, als
dus' velleicht liesest.




Jch bitte dich -- siehst du, mit mir ist's aus --
Jch trag das all nicht länger. Heut sas ich
bey ihr -- sas, sie spielte auf ihrem Clavier, manch-
faltige Melodien und all den Ausdruk! all! all! --
Was willst du? -- Jhr Schwestergen puzte ihre
Puppe auf meinem Knie. Mir kamen die Thrä-
nen in die Augen. Jch neigte mich und ihr Trau-
ring fiel mir in's Gesicht -- Meine Thränen
flossen -- Und auf einmal fiel sie in die alte him-
melsüsse Melodie ein, so auf einmal, und mir durch
die Seele gehn ein Trostgefühl und eine Erinne-
rung all des Vergangenen all der Zeiten, da ich
das Lied gehört, all der düstern Zwischenräume
des Verdrusses, der fehlgeschlagenen Hoffnungen,
und dann -- Jch gieng in der Stube auf und
nieder, mein Herz erstikte unter all dem. Um

Gottes



macht. Fuͤhle Kerl, bey dieſen troknen Worten, mit
welchem Unſinne mich die Geſchichte ergriffen hat,
da mir ſie Albert eben ſo gelaſſen erzaͤhlte, als
dus’ velleicht lieſeſt.




Jch bitte dich — ſiehſt du, mit mir iſt’s aus —
Jch trag das all nicht laͤnger. Heut ſas ich
bey ihr — ſas, ſie ſpielte auf ihrem Clavier, manch-
faltige Melodien und all den Ausdruk! all! all! —
Was willſt du? — Jhr Schweſtergen puzte ihre
Puppe auf meinem Knie. Mir kamen die Thraͤ-
nen in die Augen. Jch neigte mich und ihr Trau-
ring fiel mir in’s Geſicht — Meine Thraͤnen
floſſen — Und auf einmal fiel ſie in die alte him-
melſuͤſſe Melodie ein, ſo auf einmal, und mir durch
die Seele gehn ein Troſtgefuͤhl und eine Erinne-
rung all des Vergangenen all der Zeiten, da ich
das Lied gehoͤrt, all der duͤſtern Zwiſchenraͤume
des Verdruſſes, der fehlgeſchlagenen Hoffnungen,
und dann — Jch gieng in der Stube auf und
nieder, mein Herz erſtikte unter all dem. Um

Gottes
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[170/0058] macht. Fuͤhle Kerl, bey dieſen troknen Worten, mit welchem Unſinne mich die Geſchichte ergriffen hat, da mir ſie Albert eben ſo gelaſſen erzaͤhlte, als dus’ velleicht lieſeſt. am 4. Dez. Jch bitte dich — ſiehſt du, mit mir iſt’s aus — Jch trag das all nicht laͤnger. Heut ſas ich bey ihr — ſas, ſie ſpielte auf ihrem Clavier, manch- faltige Melodien und all den Ausdruk! all! all! — Was willſt du? — Jhr Schweſtergen puzte ihre Puppe auf meinem Knie. Mir kamen die Thraͤ- nen in die Augen. Jch neigte mich und ihr Trau- ring fiel mir in’s Geſicht — Meine Thraͤnen floſſen — Und auf einmal fiel ſie in die alte him- melſuͤſſe Melodie ein, ſo auf einmal, und mir durch die Seele gehn ein Troſtgefuͤhl und eine Erinne- rung all des Vergangenen all der Zeiten, da ich das Lied gehoͤrt, all der duͤſtern Zwiſchenraͤume des Verdruſſes, der fehlgeſchlagenen Hoffnungen, und dann — Jch gieng in der Stube auf und nieder, mein Herz erſtikte unter all dem. Um Gottes

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/58>, abgerufen am 27.04.2024.