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Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841.

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deutsche Bibliothek hat unlängst eins der drei Hefte (mehr sind nicht erschie¬
nen), als eine Rarität, mit einer bedeutenden Summe bezahlt.

Der Zufall hat uns vor Kurzem eins dieser merkwürdigen und seltenen
Blätter in die Hände gespielt, und, um unsern Lesern zu beweisen, mit
welchem jugendlichen Geiste, mit welcher Fülle und Frische Börne noch kurz
vor seinem Tode schrieb, übersetzen wir den reizenden Artikel über
Victor Hugo, indem wir wiederholt das Bedauern ausdrücken, daß derselbe
nicht dem Supplemente der neuen, mit so vieler Sorgfalt und Einsicht redi¬
girten und bereicherten Ausgabe beigegeben wurde.



"Die Dämmerungsgesänge von Victor Hugo."
Was Ihr den Geist der Zeiten heißt,
Das ist im Grund der Herren eigner Geist,
In dem die Zeiten sich bespiegeln,

Faust.

"Wenn die Dichtkunst die allgemeine Weltgeschichte des menschlichen
Herzens ist, so ist die lyrische Dichtkunst seine Chronik und sein Tagebuch.
Sie umfaßt nicht die Zeitabschnitte und die großen Bewegungen der Seele,
sie berechnet nicht die planetarischen Umwälzungen der menschlichen Geschicke,
aber sie beobachtet die Witterungsveränderungen der Gefühle, sie besingt des
Morgens Hoffnungen, des Mittags Ermatten und des Abends Täuschungen.
Sie zählt die Pulsschläge des Herzens, diese Nadelstiche und überirdischen
Augenblicke, welche oft zwischen Athemzug und Athemzug das Leben umge¬
stalten aus einem Paradiese in eine Hölle, und aus einer Hölle in ein
Paradies. Vom lyrischen Dichter verlangt man keine ruhig erhabene Ste¬
tigkeit, keine immer heitere Stirn, keine unerbittliche Lehre, keine Beständig¬
keit der Ansichten, keine feste Gesichtspuncte. Nein, er sei der Genosse jeder
Thorheit, offen sei seine Seele den Schwächen, den Leiden und Freuden
des kindischen Menschen, er irre umher mit dem Irrenden, er weine mit
dem Traurigen, er theile ihre Furcht und ihre Hoffnungen alle! Aber in¬
dem er die Hand reicht, denen, die da wanken, verliere er nicht selbst das
Gleichgewicht und gebe seine Freiheit nicht auf, indem er sich unter diejeni¬
gen mischt, die Sclaven sind ihrer Leidenschaften. Er mache sich klein, wie
eine Mutter, die ihr Kind, das ihr entgegenläuft, auf den Arm nimmt und
dann aufsteht und es an ihr Herz drückt. Aber er darf sich nicht nieder¬
kauern und in dieser Stellung bleiben, um den Verhältnissen als Zwerg
gegenüberstehen zu können. Der wahre Dichter, der mehr ist als ein blos
poetisches Gemüth, ist unberührt von den Uebeln, die er heilen, von dem
Herzeleid, das er lindern will. Aelter als die Vergangenheit, und jünger

deutsche Bibliothek hat unlängst eins der drei Hefte (mehr sind nicht erschie¬
nen), als eine Rarität, mit einer bedeutenden Summe bezahlt.

Der Zufall hat uns vor Kurzem eins dieser merkwürdigen und seltenen
Blätter in die Hände gespielt, und, um unsern Lesern zu beweisen, mit
welchem jugendlichen Geiste, mit welcher Fülle und Frische Börne noch kurz
vor seinem Tode schrieb, übersetzen wir den reizenden Artikel über
Victor Hugo, indem wir wiederholt das Bedauern ausdrücken, daß derselbe
nicht dem Supplemente der neuen, mit so vieler Sorgfalt und Einsicht redi¬
girten und bereicherten Ausgabe beigegeben wurde.



„Die Dämmerungsgesänge von Victor Hugo.“
Was Ihr den Geist der Zeiten heißt,
Das ist im Grund der Herren eigner Geist,
In dem die Zeiten sich bespiegeln,

Faust.

„Wenn die Dichtkunst die allgemeine Weltgeschichte des menschlichen
Herzens ist, so ist die lyrische Dichtkunst seine Chronik und sein Tagebuch.
Sie umfaßt nicht die Zeitabschnitte und die großen Bewegungen der Seele,
sie berechnet nicht die planetarischen Umwälzungen der menschlichen Geschicke,
aber sie beobachtet die Witterungsveränderungen der Gefühle, sie besingt des
Morgens Hoffnungen, des Mittags Ermatten und des Abends Täuschungen.
Sie zählt die Pulsschläge des Herzens, diese Nadelstiche und überirdischen
Augenblicke, welche oft zwischen Athemzug und Athemzug das Leben umge¬
stalten aus einem Paradiese in eine Hölle, und aus einer Hölle in ein
Paradies. Vom lyrischen Dichter verlangt man keine ruhig erhabene Ste¬
tigkeit, keine immer heitere Stirn, keine unerbittliche Lehre, keine Beständig¬
keit der Ansichten, keine feste Gesichtspuncte. Nein, er sei der Genosse jeder
Thorheit, offen sei seine Seele den Schwächen, den Leiden und Freuden
des kindischen Menschen, er irre umher mit dem Irrenden, er weine mit
dem Traurigen, er theile ihre Furcht und ihre Hoffnungen alle! Aber in¬
dem er die Hand reicht, denen, die da wanken, verliere er nicht selbst das
Gleichgewicht und gebe seine Freiheit nicht auf, indem er sich unter diejeni¬
gen mischt, die Sclaven sind ihrer Leidenschaften. Er mache sich klein, wie
eine Mutter, die ihr Kind, das ihr entgegenläuft, auf den Arm nimmt und
dann aufsteht und es an ihr Herz drückt. Aber er darf sich nicht nieder¬
kauern und in dieser Stellung bleiben, um den Verhältnissen als Zwerg
gegenüberstehen zu können. Der wahre Dichter, der mehr ist als ein blos
poetisches Gemüth, ist unberührt von den Uebeln, die er heilen, von dem
Herzeleid, das er lindern will. Aelter als die Vergangenheit, und jünger

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[106/0114] deutsche Bibliothek hat unlängst eins der drei Hefte (mehr sind nicht erschie¬ nen), als eine Rarität, mit einer bedeutenden Summe bezahlt. Der Zufall hat uns vor Kurzem eins dieser merkwürdigen und seltenen Blätter in die Hände gespielt, und, um unsern Lesern zu beweisen, mit welchem jugendlichen Geiste, mit welcher Fülle und Frische Börne noch kurz vor seinem Tode schrieb, übersetzen wir den reizenden Artikel über Victor Hugo, indem wir wiederholt das Bedauern ausdrücken, daß derselbe nicht dem Supplemente der neuen, mit so vieler Sorgfalt und Einsicht redi¬ girten und bereicherten Ausgabe beigegeben wurde. „Die Dämmerungsgesänge von Victor Hugo.“ Was Ihr den Geist der Zeiten heißt, Das ist im Grund der Herren eigner Geist, In dem die Zeiten sich bespiegeln, Faust. „Wenn die Dichtkunst die allgemeine Weltgeschichte des menschlichen Herzens ist, so ist die lyrische Dichtkunst seine Chronik und sein Tagebuch. Sie umfaßt nicht die Zeitabschnitte und die großen Bewegungen der Seele, sie berechnet nicht die planetarischen Umwälzungen der menschlichen Geschicke, aber sie beobachtet die Witterungsveränderungen der Gefühle, sie besingt des Morgens Hoffnungen, des Mittags Ermatten und des Abends Täuschungen. Sie zählt die Pulsschläge des Herzens, diese Nadelstiche und überirdischen Augenblicke, welche oft zwischen Athemzug und Athemzug das Leben umge¬ stalten aus einem Paradiese in eine Hölle, und aus einer Hölle in ein Paradies. Vom lyrischen Dichter verlangt man keine ruhig erhabene Ste¬ tigkeit, keine immer heitere Stirn, keine unerbittliche Lehre, keine Beständig¬ keit der Ansichten, keine feste Gesichtspuncte. Nein, er sei der Genosse jeder Thorheit, offen sei seine Seele den Schwächen, den Leiden und Freuden des kindischen Menschen, er irre umher mit dem Irrenden, er weine mit dem Traurigen, er theile ihre Furcht und ihre Hoffnungen alle! Aber in¬ dem er die Hand reicht, denen, die da wanken, verliere er nicht selbst das Gleichgewicht und gebe seine Freiheit nicht auf, indem er sich unter diejeni¬ gen mischt, die Sclaven sind ihrer Leidenschaften. Er mache sich klein, wie eine Mutter, die ihr Kind, das ihr entgegenläuft, auf den Arm nimmt und dann aufsteht und es an ihr Herz drückt. Aber er darf sich nicht nieder¬ kauern und in dieser Stellung bleiben, um den Verhältnissen als Zwerg gegenüberstehen zu können. Der wahre Dichter, der mehr ist als ein blos poetisches Gemüth, ist unberührt von den Uebeln, die er heilen, von dem Herzeleid, das er lindern will. Aelter als die Vergangenheit, und jünger

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_179382_282158/114>, abgerufen am 26.04.2024.