Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841.

Bild:
<< vorherige Seite
Leipziger Skizzen.


Erstes Blatt.

Universität und Messe. Studentenzustände. Leipzig und Stuttgart. Wallensteins Lager.
Gottsched und Ludwig der Eilfte. Junges Deutschland. Paris.



Ein bekannter Arzt behauptet in seinen Schriften, das Weib sei nur zur
Zeit der Schwangerschaft im normalen, gesunden, naturgemäßen Zustande;
eben so könnte man sagen: Leipzig sei nur zur Zeit, wo es sich in gesegneten
Umständen befindet -- zur Zeit der Messe -- ein organischer, gesunder Körper.
Außer der Meßzeit ist Leipzig ein kränkliches Weib, dem die weiten Kleider um
die Glieder schlottern, ein Aschermittwochsgesicht, das den Carneval nicht aus¬
geschlafen hat. Man muß das alte Leipzig von dem neuen wohl unterscheiden.
Als die hiesige Universität noch von jenem innern Mark durchströmt war, das
ihren Ruf begründete, da wurde die Handelsstadt von der Universitätsstadt pa¬
ralysirt, es war ein Doppelleben -- aber in gleichen Theilen abgetheilt. Nun
ist es anders. Nicht als ob unser Universitätsleben im Vergleich gegen andere
Universitäten einen stärkern Niederschlag erlitten hätte. Den statistischen Anga¬
ben zufolge hat in den letzten 10 Jahren die Zahl der in Leipzig Studirenden
nur um ein Zehntheil sich vermindert, während an den meisten andern Univer¬
sitäten in Bonn, Tübingen, Heidelberg, Halle, Breslau, die Studentenzahl fast
um ein Drittheil abgenommen hat. Die industrielle Richtung und ihr Ueber-
gewicht über die ideelle, wissenschaftliche, ist als entscheidender Charakterzug des
letzten Jahrzehends in ganz Deutschland gleich scharf hervorgetreten, nur daß
dieß in Leipzig sichtbarer ins Auge fällt, weil hier Handel und Wissenschaft von
Angesicht zu Angesicht sich gegenüberstehen. Der Zollverein wurde für Leipzig
ein neuer Lebensnerv. Der deutsche Handel, der früher an verschiedenen Or¬
ten seine Stationen und Entrepots hatte, centralisirt sich immer mehr und mehr
in dieser Stadt; der Kaufmann, der früher nach Frankfurt, Braunschweig etc.
-- je nachdem es ihm näher und zottgeringer war -- seine Meßfahrten rich-

Leipziger Skizzen.


Erstes Blatt.

Universität und Messe. Studentenzustände. Leipzig und Stuttgart. Wallensteins Lager.
Gottsched und Ludwig der Eilfte. Junges Deutschland. Paris.



Ein bekannter Arzt behauptet in seinen Schriften, das Weib sei nur zur
Zeit der Schwangerschaft im normalen, gesunden, naturgemäßen Zustande;
eben so könnte man sagen: Leipzig sei nur zur Zeit, wo es sich in gesegneten
Umständen befindet — zur Zeit der Messe — ein organischer, gesunder Körper.
Außer der Meßzeit ist Leipzig ein kränkliches Weib, dem die weiten Kleider um
die Glieder schlottern, ein Aschermittwochsgesicht, das den Carneval nicht aus¬
geschlafen hat. Man muß das alte Leipzig von dem neuen wohl unterscheiden.
Als die hiesige Universität noch von jenem innern Mark durchströmt war, das
ihren Ruf begründete, da wurde die Handelsstadt von der Universitätsstadt pa¬
ralysirt, es war ein Doppelleben — aber in gleichen Theilen abgetheilt. Nun
ist es anders. Nicht als ob unser Universitätsleben im Vergleich gegen andere
Universitäten einen stärkern Niederschlag erlitten hätte. Den statistischen Anga¬
ben zufolge hat in den letzten 10 Jahren die Zahl der in Leipzig Studirenden
nur um ein Zehntheil sich vermindert, während an den meisten andern Univer¬
sitäten in Bonn, Tübingen, Heidelberg, Halle, Breslau, die Studentenzahl fast
um ein Drittheil abgenommen hat. Die industrielle Richtung und ihr Ueber-
gewicht über die ideelle, wissenschaftliche, ist als entscheidender Charakterzug des
letzten Jahrzehends in ganz Deutschland gleich scharf hervorgetreten, nur daß
dieß in Leipzig sichtbarer ins Auge fällt, weil hier Handel und Wissenschaft von
Angesicht zu Angesicht sich gegenüberstehen. Der Zollverein wurde für Leipzig
ein neuer Lebensnerv. Der deutsche Handel, der früher an verschiedenen Or¬
ten seine Stationen und Entrepots hatte, centralisirt sich immer mehr und mehr
in dieser Stadt; der Kaufmann, der früher nach Frankfurt, Braunschweig ꝛc.
— je nachdem es ihm näher und zottgeringer war — seine Meßfahrten rich-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/179417" facs="#f0034" n="26"/>
      <div n="1">
        <head>Leipziger Skizzen.</head><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <div n="2">
          <head>Erstes Blatt.</head><lb/>
          <argument>
            <p>Universität und Messe. Studentenzustände. Leipzig und Stuttgart. Wallensteins Lager.<lb/>
Gottsched und Ludwig der Eilfte. Junges Deutschland. Paris.</p>
          </argument><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p>Ein bekannter Arzt behauptet in seinen Schriften, das Weib sei nur zur<lb/>
Zeit der Schwangerschaft im normalen, gesunden, naturgemäßen Zustande;<lb/>
eben so könnte man sagen: Leipzig sei nur zur Zeit, wo es sich in gesegneten<lb/>
Umständen befindet &#x2014; zur Zeit der Messe &#x2014; ein organischer, gesunder Körper.<lb/>
Außer der Meßzeit ist Leipzig ein kränkliches Weib, dem die weiten Kleider um<lb/>
die Glieder schlottern, ein Aschermittwochsgesicht, das den Carneval nicht aus¬<lb/>
geschlafen hat. Man muß das alte Leipzig von dem neuen wohl unterscheiden.<lb/>
Als die hiesige Universität noch von jenem innern Mark durchströmt war, das<lb/>
ihren Ruf begründete, da wurde die Handelsstadt von der Universitätsstadt pa¬<lb/>
ralysirt, es war ein Doppelleben &#x2014; aber in gleichen Theilen abgetheilt. Nun<lb/>
ist es anders. Nicht als ob unser Universitätsleben im Vergleich gegen andere<lb/>
Universitäten einen stärkern Niederschlag erlitten hätte. Den statistischen Anga¬<lb/>
ben zufolge hat in den letzten 10 Jahren die Zahl der in Leipzig Studirenden<lb/>
nur um ein Zehntheil sich vermindert, während an den meisten andern Univer¬<lb/>
sitäten in Bonn, Tübingen, Heidelberg, Halle, Breslau, die Studentenzahl fast<lb/>
um ein Drittheil abgenommen hat. Die industrielle Richtung und ihr Ueber-<lb/>
gewicht über die ideelle, wissenschaftliche, ist als entscheidender Charakterzug des<lb/>
letzten Jahrzehends in ganz Deutschland gleich scharf hervorgetreten, nur daß<lb/>
dieß in Leipzig sichtbarer ins Auge fällt, weil hier Handel und Wissenschaft von<lb/>
Angesicht zu Angesicht sich gegenüberstehen. Der Zollverein wurde für Leipzig<lb/>
ein neuer Lebensnerv. Der deutsche Handel, der früher an verschiedenen Or¬<lb/>
ten seine Stationen und Entrepots hatte, centralisirt sich immer mehr und mehr<lb/>
in dieser Stadt; der Kaufmann, der früher nach Frankfurt, Braunschweig &#xA75B;c.<lb/>
&#x2014; je nachdem es ihm näher und zottgeringer war &#x2014; seine Meßfahrten rich-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[26/0034] Leipziger Skizzen. Erstes Blatt. Universität und Messe. Studentenzustände. Leipzig und Stuttgart. Wallensteins Lager. Gottsched und Ludwig der Eilfte. Junges Deutschland. Paris. Ein bekannter Arzt behauptet in seinen Schriften, das Weib sei nur zur Zeit der Schwangerschaft im normalen, gesunden, naturgemäßen Zustande; eben so könnte man sagen: Leipzig sei nur zur Zeit, wo es sich in gesegneten Umständen befindet — zur Zeit der Messe — ein organischer, gesunder Körper. Außer der Meßzeit ist Leipzig ein kränkliches Weib, dem die weiten Kleider um die Glieder schlottern, ein Aschermittwochsgesicht, das den Carneval nicht aus¬ geschlafen hat. Man muß das alte Leipzig von dem neuen wohl unterscheiden. Als die hiesige Universität noch von jenem innern Mark durchströmt war, das ihren Ruf begründete, da wurde die Handelsstadt von der Universitätsstadt pa¬ ralysirt, es war ein Doppelleben — aber in gleichen Theilen abgetheilt. Nun ist es anders. Nicht als ob unser Universitätsleben im Vergleich gegen andere Universitäten einen stärkern Niederschlag erlitten hätte. Den statistischen Anga¬ ben zufolge hat in den letzten 10 Jahren die Zahl der in Leipzig Studirenden nur um ein Zehntheil sich vermindert, während an den meisten andern Univer¬ sitäten in Bonn, Tübingen, Heidelberg, Halle, Breslau, die Studentenzahl fast um ein Drittheil abgenommen hat. Die industrielle Richtung und ihr Ueber- gewicht über die ideelle, wissenschaftliche, ist als entscheidender Charakterzug des letzten Jahrzehends in ganz Deutschland gleich scharf hervorgetreten, nur daß dieß in Leipzig sichtbarer ins Auge fällt, weil hier Handel und Wissenschaft von Angesicht zu Angesicht sich gegenüberstehen. Der Zollverein wurde für Leipzig ein neuer Lebensnerv. Der deutsche Handel, der früher an verschiedenen Or¬ ten seine Stationen und Entrepots hatte, centralisirt sich immer mehr und mehr in dieser Stadt; der Kaufmann, der früher nach Frankfurt, Braunschweig ꝛc. — je nachdem es ihm näher und zottgeringer war — seine Meßfahrten rich-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription. (2013-11-19T17:23:38Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Bayerische Staatbibliothek: Bereitstellung der Bilddigitalisate (Signatur Per 61 k-1). (2013-11-19T17:23:38Z)

Weitere Informationen:

Art der Texterfassung: OCR.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_179382_282158
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_179382_282158/34
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_179382_282158/34>, abgerufen am 27.04.2024.