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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester.

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Karl B e et.
Eine liteninschc Skizze.



Das hat gewiß Jeder empfunden, welches Zauberlebcn in einem wahr¬
haft schönen Buch ist. Selbst der Leser aus Pflicht und Beruf, der, die
Feder hinterm Ohr, die weiten Felder der Literatur durchstreift, wird
manchmal diese Macht fühlen. Da vergißt er die blasse Reflenon,
denkt nicht mehr an Tendenz oder Kunst, sondern genießt wieder ein¬
mal mit vollen Zügen, statt vorsichtig zu kosten und zu prüfen, wie
eS dein Publicum munden müsse. Er glaubt sich zurückversetzt in die
glückliche Jugendzeit, wo er noch in Unschuld lesen konnte; wo seine
Seele, beim Aufschlagen eines neuen Buches, wie ein schämiges Mäd¬
chen war, wenn es die Gitterthür eines fremden, geheimnißreichen
Gartens öffnet, oder wie ein feuriger Knabe, wenn er vor dem rau¬
schenden Walde steht, von dem er so viel gehört und geträumt hat.
-- Solche Gewalt hat jedes bedeutende Dichterbuch. Es verjüngt
wie ein schönes Erlebniß und fesselt wie ein wirkliches Wesen, das
Einem theuer geworden; selbst die Schwächen und Schatten darin
kommen Einem nothwendig vor und haben eigenen Reiz; man mochte
sie kaum wegwünschen, denn sie bürgen für die Wahrheit und Indi¬
vidualität des Ganzen. Und dann, siehst Du, es ist ja aus reiner
Sympathie und nur für Dich entstanden, der Du gerade Leser bist.
Wenn es ein Roman ist, so erkennst Du in der geschilderten Land¬
schaft Deine Heimath wieder, die Figuren haben die auffallendste
Aehnlichkeit mit Deinen Freunden, auch Deine Todten und Verlore¬
nen stehen wieder auf. Ist es Lyrik, so blaue Dich aus jeder Zeile
das Auge des Dichters an, aus dem Rhythmus glaubst Du den
Klang seiner Stimme zu hören; ehe Du's denkst, hast Du ein be¬
stimmtes Bild von seiner äußeren Erscheinung.

Wie aber, wenn es das Buch eines Freundes ist? Wohl gar

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Karl B e et.
Eine liteninschc Skizze.



Das hat gewiß Jeder empfunden, welches Zauberlebcn in einem wahr¬
haft schönen Buch ist. Selbst der Leser aus Pflicht und Beruf, der, die
Feder hinterm Ohr, die weiten Felder der Literatur durchstreift, wird
manchmal diese Macht fühlen. Da vergißt er die blasse Reflenon,
denkt nicht mehr an Tendenz oder Kunst, sondern genießt wieder ein¬
mal mit vollen Zügen, statt vorsichtig zu kosten und zu prüfen, wie
eS dein Publicum munden müsse. Er glaubt sich zurückversetzt in die
glückliche Jugendzeit, wo er noch in Unschuld lesen konnte; wo seine
Seele, beim Aufschlagen eines neuen Buches, wie ein schämiges Mäd¬
chen war, wenn es die Gitterthür eines fremden, geheimnißreichen
Gartens öffnet, oder wie ein feuriger Knabe, wenn er vor dem rau¬
schenden Walde steht, von dem er so viel gehört und geträumt hat.
— Solche Gewalt hat jedes bedeutende Dichterbuch. Es verjüngt
wie ein schönes Erlebniß und fesselt wie ein wirkliches Wesen, das
Einem theuer geworden; selbst die Schwächen und Schatten darin
kommen Einem nothwendig vor und haben eigenen Reiz; man mochte
sie kaum wegwünschen, denn sie bürgen für die Wahrheit und Indi¬
vidualität des Ganzen. Und dann, siehst Du, es ist ja aus reiner
Sympathie und nur für Dich entstanden, der Du gerade Leser bist.
Wenn es ein Roman ist, so erkennst Du in der geschilderten Land¬
schaft Deine Heimath wieder, die Figuren haben die auffallendste
Aehnlichkeit mit Deinen Freunden, auch Deine Todten und Verlore¬
nen stehen wieder auf. Ist es Lyrik, so blaue Dich aus jeder Zeile
das Auge des Dichters an, aus dem Rhythmus glaubst Du den
Klang seiner Stimme zu hören; ehe Du's denkst, hast Du ein be¬
stimmtes Bild von seiner äußeren Erscheinung.

Wie aber, wenn es das Buch eines Freundes ist? Wohl gar

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[0034] Karl B e et. Eine liteninschc Skizze. Das hat gewiß Jeder empfunden, welches Zauberlebcn in einem wahr¬ haft schönen Buch ist. Selbst der Leser aus Pflicht und Beruf, der, die Feder hinterm Ohr, die weiten Felder der Literatur durchstreift, wird manchmal diese Macht fühlen. Da vergißt er die blasse Reflenon, denkt nicht mehr an Tendenz oder Kunst, sondern genießt wieder ein¬ mal mit vollen Zügen, statt vorsichtig zu kosten und zu prüfen, wie eS dein Publicum munden müsse. Er glaubt sich zurückversetzt in die glückliche Jugendzeit, wo er noch in Unschuld lesen konnte; wo seine Seele, beim Aufschlagen eines neuen Buches, wie ein schämiges Mäd¬ chen war, wenn es die Gitterthür eines fremden, geheimnißreichen Gartens öffnet, oder wie ein feuriger Knabe, wenn er vor dem rau¬ schenden Walde steht, von dem er so viel gehört und geträumt hat. — Solche Gewalt hat jedes bedeutende Dichterbuch. Es verjüngt wie ein schönes Erlebniß und fesselt wie ein wirkliches Wesen, das Einem theuer geworden; selbst die Schwächen und Schatten darin kommen Einem nothwendig vor und haben eigenen Reiz; man mochte sie kaum wegwünschen, denn sie bürgen für die Wahrheit und Indi¬ vidualität des Ganzen. Und dann, siehst Du, es ist ja aus reiner Sympathie und nur für Dich entstanden, der Du gerade Leser bist. Wenn es ein Roman ist, so erkennst Du in der geschilderten Land¬ schaft Deine Heimath wieder, die Figuren haben die auffallendste Aehnlichkeit mit Deinen Freunden, auch Deine Todten und Verlore¬ nen stehen wieder auf. Ist es Lyrik, so blaue Dich aus jeder Zeile das Auge des Dichters an, aus dem Rhythmus glaubst Du den Klang seiner Stimme zu hören; ehe Du's denkst, hast Du ein be¬ stimmtes Bild von seiner äußeren Erscheinung. Wie aber, wenn es das Buch eines Freundes ist? Wohl gar S

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416/34>, abgerufen am 06.05.2024.