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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester.

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eines Jugendfreundes? ES sieht Dich an, wie.ein Brief ans alten
Zeiten. Das sind keine todten Lettern, eS sind lebendige Lippen, die
von freud- und leidvollen Tagen murmeln; denn Du weißt, wie in
der einsamen Stille die Wehmuth lächelt und wie die Begeisterung
blickt, die vor aller Welt hier in Reim und Vers gebracht sind. Du
kennst das Leben, aus dem diese Lieder gewachsen sind. Wirst Du
darüber--eine Kritik schreiben? -- Nein, antwortet mir der erfahrene
Leser; aber Beiträge zu einer Kritik. Wir würden menschlicher und
gerechter über die Werke der meisten Lebenden urtheilen, wenn wir
sie in vertrauter Nähe gesehen hätten. DaS ist nicht überall mög¬
lich; aber da, wo eS möglich ist, sollte man sich des Urtheils nicht
enthalten. Die Freundschaft macht nicht blind wie die Liebe; oft.
vielmehr macht sie sehend für die wichtigsten Punkte in der Natur
eines Dichters, die kein Scharfsinn des Kritikers ergründen würde.
Wenn man so gern über todte Dichter die Stimme ihrer Freunde
hört, warum nicht über lebende?

Und so geht es dem Schreiber dieser Zeilen mit den Gedichten
Karl Beck's. Glücklicherweise ist er gar nicht in dem Fall, erst ein
Urtheil über Beck's Talent fällen zu müssen; ein Talent, dessen ganze
Bedeutung längst von viel gewichtigeren Stimmen gewürdigt und
gefeiert wurde. Nur einige Bemerkungen über den Gesammteindruck
dieser Poesien will er aufzeichnen; vielleicht, daß der Leser daraus
manche Eigenthümlichkeit des Dichters sich leichter erklären kann. --
Die vielbesprochene neue Ausgabe ^) gibt uns die Früchte eines
reichbewegter jugendlichen Dichterlebens, in eine schone, mit frischen
Blumen geschmückte Garbe gebunden. "Saul und Janko" fehlen hier
nur aus äußeren, nicht aus literarischen Gründen, während der Dich¬
ter unter seinen übrigen Geisteskindern außerordentlich strenge Mu¬
sterung gehalten hat. Der Kreis dieser Sammlung beginnt mit den
"Nächten" und schließt mit der "Auferstehung", in der wir wieder den
Anfang einer neuen hoffnungsvollen Dichterlaufbahn erkennen. So
sehr diese beiden Gedichte weit auseinander zu gehen scheinen, so ste¬
hen sie doch im nothwendigsten Rapport. Durch die "Nächte" geht
das kosmopolitische Wetterleuchten des vorigen Jahrzehends, in der



*) Gedichte von Karl Weck. Der neuen, durchaus umgearbeiteten und
vermehrten Ausgabe zweite unveränderte Auflage. Berlin, Is43. Ver¬
lag der Vossischen Buchhandlung.

eines Jugendfreundes? ES sieht Dich an, wie.ein Brief ans alten
Zeiten. Das sind keine todten Lettern, eS sind lebendige Lippen, die
von freud- und leidvollen Tagen murmeln; denn Du weißt, wie in
der einsamen Stille die Wehmuth lächelt und wie die Begeisterung
blickt, die vor aller Welt hier in Reim und Vers gebracht sind. Du
kennst das Leben, aus dem diese Lieder gewachsen sind. Wirst Du
darüber—eine Kritik schreiben? — Nein, antwortet mir der erfahrene
Leser; aber Beiträge zu einer Kritik. Wir würden menschlicher und
gerechter über die Werke der meisten Lebenden urtheilen, wenn wir
sie in vertrauter Nähe gesehen hätten. DaS ist nicht überall mög¬
lich; aber da, wo eS möglich ist, sollte man sich des Urtheils nicht
enthalten. Die Freundschaft macht nicht blind wie die Liebe; oft.
vielmehr macht sie sehend für die wichtigsten Punkte in der Natur
eines Dichters, die kein Scharfsinn des Kritikers ergründen würde.
Wenn man so gern über todte Dichter die Stimme ihrer Freunde
hört, warum nicht über lebende?

Und so geht es dem Schreiber dieser Zeilen mit den Gedichten
Karl Beck's. Glücklicherweise ist er gar nicht in dem Fall, erst ein
Urtheil über Beck's Talent fällen zu müssen; ein Talent, dessen ganze
Bedeutung längst von viel gewichtigeren Stimmen gewürdigt und
gefeiert wurde. Nur einige Bemerkungen über den Gesammteindruck
dieser Poesien will er aufzeichnen; vielleicht, daß der Leser daraus
manche Eigenthümlichkeit des Dichters sich leichter erklären kann. —
Die vielbesprochene neue Ausgabe ^) gibt uns die Früchte eines
reichbewegter jugendlichen Dichterlebens, in eine schone, mit frischen
Blumen geschmückte Garbe gebunden. „Saul und Janko" fehlen hier
nur aus äußeren, nicht aus literarischen Gründen, während der Dich¬
ter unter seinen übrigen Geisteskindern außerordentlich strenge Mu¬
sterung gehalten hat. Der Kreis dieser Sammlung beginnt mit den
„Nächten" und schließt mit der „Auferstehung", in der wir wieder den
Anfang einer neuen hoffnungsvollen Dichterlaufbahn erkennen. So
sehr diese beiden Gedichte weit auseinander zu gehen scheinen, so ste¬
hen sie doch im nothwendigsten Rapport. Durch die „Nächte" geht
das kosmopolitische Wetterleuchten des vorigen Jahrzehends, in der



*) Gedichte von Karl Weck. Der neuen, durchaus umgearbeiteten und
vermehrten Ausgabe zweite unveränderte Auflage. Berlin, Is43. Ver¬
lag der Vossischen Buchhandlung.
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[0035] eines Jugendfreundes? ES sieht Dich an, wie.ein Brief ans alten Zeiten. Das sind keine todten Lettern, eS sind lebendige Lippen, die von freud- und leidvollen Tagen murmeln; denn Du weißt, wie in der einsamen Stille die Wehmuth lächelt und wie die Begeisterung blickt, die vor aller Welt hier in Reim und Vers gebracht sind. Du kennst das Leben, aus dem diese Lieder gewachsen sind. Wirst Du darüber—eine Kritik schreiben? — Nein, antwortet mir der erfahrene Leser; aber Beiträge zu einer Kritik. Wir würden menschlicher und gerechter über die Werke der meisten Lebenden urtheilen, wenn wir sie in vertrauter Nähe gesehen hätten. DaS ist nicht überall mög¬ lich; aber da, wo eS möglich ist, sollte man sich des Urtheils nicht enthalten. Die Freundschaft macht nicht blind wie die Liebe; oft. vielmehr macht sie sehend für die wichtigsten Punkte in der Natur eines Dichters, die kein Scharfsinn des Kritikers ergründen würde. Wenn man so gern über todte Dichter die Stimme ihrer Freunde hört, warum nicht über lebende? Und so geht es dem Schreiber dieser Zeilen mit den Gedichten Karl Beck's. Glücklicherweise ist er gar nicht in dem Fall, erst ein Urtheil über Beck's Talent fällen zu müssen; ein Talent, dessen ganze Bedeutung längst von viel gewichtigeren Stimmen gewürdigt und gefeiert wurde. Nur einige Bemerkungen über den Gesammteindruck dieser Poesien will er aufzeichnen; vielleicht, daß der Leser daraus manche Eigenthümlichkeit des Dichters sich leichter erklären kann. — Die vielbesprochene neue Ausgabe ^) gibt uns die Früchte eines reichbewegter jugendlichen Dichterlebens, in eine schone, mit frischen Blumen geschmückte Garbe gebunden. „Saul und Janko" fehlen hier nur aus äußeren, nicht aus literarischen Gründen, während der Dich¬ ter unter seinen übrigen Geisteskindern außerordentlich strenge Mu¬ sterung gehalten hat. Der Kreis dieser Sammlung beginnt mit den „Nächten" und schließt mit der „Auferstehung", in der wir wieder den Anfang einer neuen hoffnungsvollen Dichterlaufbahn erkennen. So sehr diese beiden Gedichte weit auseinander zu gehen scheinen, so ste¬ hen sie doch im nothwendigsten Rapport. Durch die „Nächte" geht das kosmopolitische Wetterleuchten des vorigen Jahrzehends, in der *) Gedichte von Karl Weck. Der neuen, durchaus umgearbeiteten und vermehrten Ausgabe zweite unveränderte Auflage. Berlin, Is43. Ver¬ lag der Vossischen Buchhandlung.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416/35>, abgerufen am 27.05.2024.