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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester. II. Band.

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i.
Die Schweizer Frage.

Die Schweizer Wirren beschäftigen gegenwärtig unter allen Fra¬
gen auswärtiger Politik am meisten das Publicum, und wenn auch
der große Haufe, der die Wichtigkeit staatlicher Vorgänge blos nach
dem materiellen Gewicht abschätzen kann, womit dieselben in die politi¬
sche Wagschale fallen, sich kaum anders darüber vernehmen läßt, als
in dem Tone spöttischer Geringschätzung, so entgeht dem Tieferblicken¬
den die Bedeutung der schweizerischen Begebenheiten in keiner Art, und
man weiß hier recht gut, was daran hängt. Der Bürger großer
Monarchien besitzt unter allen Umständen einen Sinn für das räum¬
lich Großartige und er mag es nicht leiden, wenn das Kleine große
Interessen ausfechten will; diese in großartigeren Verhältnissen aufer¬
zogene Anschauung der Dinge ist indeß nur ein trübseliges Surrogat
für die Verkürzung der Individualität, welche denn doch immer Haupt¬
sache bleiben muß, und es liegt eine ironische Verzweiflung in dem
Hohn, womit die Einwohner mächtiger, nach absoluten Prinzipien re¬
gierter Staaten die Bewegungen kleiner Staaten verfolgen, denen
sie äußere Bedeutungslosigkeit vorwerfen, weil sie wissen, daß sie selbst
an der innerlichen leiden und siechen. Auch fehlt es nicht an solchen,
welche die Frage aufwerfen, ob man denn nicht einmal von dem schon
so oft mißbrauchten Recht der Intervention abstehen werde, das im
Verlaufe der neuern Geschichte noch niemals bleibenden Vortheil ver¬
schafft hat, sondern immer nur zum Schaden der intervenirenden Macht
ausgeschlagen ist. Der große blutige Kampf der fünfundzwanzigjährigen
Revolutionskriege mit allen seinen tiefen Wunden, an denen das Finanz¬
wesen der meisten europäischen Staaten so bedenkliche Nachkuren an¬
stellen muß, ist gleichfalls blos eine Folge der Einmischung fremder
Mächte in die innern Angelegenheiten Frankreichs gewesen, welche
wahrscheinlich ohne die Reichenbacher Convention und das Manifest
des Herzogs von Braunschweig niemals die extreme und königsmör-


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i.
Die Schweizer Frage.

Die Schweizer Wirren beschäftigen gegenwärtig unter allen Fra¬
gen auswärtiger Politik am meisten das Publicum, und wenn auch
der große Haufe, der die Wichtigkeit staatlicher Vorgänge blos nach
dem materiellen Gewicht abschätzen kann, womit dieselben in die politi¬
sche Wagschale fallen, sich kaum anders darüber vernehmen läßt, als
in dem Tone spöttischer Geringschätzung, so entgeht dem Tieferblicken¬
den die Bedeutung der schweizerischen Begebenheiten in keiner Art, und
man weiß hier recht gut, was daran hängt. Der Bürger großer
Monarchien besitzt unter allen Umständen einen Sinn für das räum¬
lich Großartige und er mag es nicht leiden, wenn das Kleine große
Interessen ausfechten will; diese in großartigeren Verhältnissen aufer¬
zogene Anschauung der Dinge ist indeß nur ein trübseliges Surrogat
für die Verkürzung der Individualität, welche denn doch immer Haupt¬
sache bleiben muß, und es liegt eine ironische Verzweiflung in dem
Hohn, womit die Einwohner mächtiger, nach absoluten Prinzipien re¬
gierter Staaten die Bewegungen kleiner Staaten verfolgen, denen
sie äußere Bedeutungslosigkeit vorwerfen, weil sie wissen, daß sie selbst
an der innerlichen leiden und siechen. Auch fehlt es nicht an solchen,
welche die Frage aufwerfen, ob man denn nicht einmal von dem schon
so oft mißbrauchten Recht der Intervention abstehen werde, das im
Verlaufe der neuern Geschichte noch niemals bleibenden Vortheil ver¬
schafft hat, sondern immer nur zum Schaden der intervenirenden Macht
ausgeschlagen ist. Der große blutige Kampf der fünfundzwanzigjährigen
Revolutionskriege mit allen seinen tiefen Wunden, an denen das Finanz¬
wesen der meisten europäischen Staaten so bedenkliche Nachkuren an¬
stellen muß, ist gleichfalls blos eine Folge der Einmischung fremder
Mächte in die innern Angelegenheiten Frankreichs gewesen, welche
wahrscheinlich ohne die Reichenbacher Convention und das Manifest
des Herzogs von Braunschweig niemals die extreme und königsmör-


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[0182] T a g e b u es. i. Die Schweizer Frage. Die Schweizer Wirren beschäftigen gegenwärtig unter allen Fra¬ gen auswärtiger Politik am meisten das Publicum, und wenn auch der große Haufe, der die Wichtigkeit staatlicher Vorgänge blos nach dem materiellen Gewicht abschätzen kann, womit dieselben in die politi¬ sche Wagschale fallen, sich kaum anders darüber vernehmen läßt, als in dem Tone spöttischer Geringschätzung, so entgeht dem Tieferblicken¬ den die Bedeutung der schweizerischen Begebenheiten in keiner Art, und man weiß hier recht gut, was daran hängt. Der Bürger großer Monarchien besitzt unter allen Umständen einen Sinn für das räum¬ lich Großartige und er mag es nicht leiden, wenn das Kleine große Interessen ausfechten will; diese in großartigeren Verhältnissen aufer¬ zogene Anschauung der Dinge ist indeß nur ein trübseliges Surrogat für die Verkürzung der Individualität, welche denn doch immer Haupt¬ sache bleiben muß, und es liegt eine ironische Verzweiflung in dem Hohn, womit die Einwohner mächtiger, nach absoluten Prinzipien re¬ gierter Staaten die Bewegungen kleiner Staaten verfolgen, denen sie äußere Bedeutungslosigkeit vorwerfen, weil sie wissen, daß sie selbst an der innerlichen leiden und siechen. Auch fehlt es nicht an solchen, welche die Frage aufwerfen, ob man denn nicht einmal von dem schon so oft mißbrauchten Recht der Intervention abstehen werde, das im Verlaufe der neuern Geschichte noch niemals bleibenden Vortheil ver¬ schafft hat, sondern immer nur zum Schaden der intervenirenden Macht ausgeschlagen ist. Der große blutige Kampf der fünfundzwanzigjährigen Revolutionskriege mit allen seinen tiefen Wunden, an denen das Finanz¬ wesen der meisten europäischen Staaten so bedenkliche Nachkuren an¬ stellen muß, ist gleichfalls blos eine Folge der Einmischung fremder Mächte in die innern Angelegenheiten Frankreichs gewesen, welche wahrscheinlich ohne die Reichenbacher Convention und das Manifest des Herzogs von Braunschweig niemals die extreme und königsmör-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_270058/182>, abgerufen am 27.04.2024.