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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester. II. Band.

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III.
Die erste Schriftstellerversammlung in Leipzig.

Sie hat wirklich stattgefunden! Neun und neunzig Köpfe waren
beisammen. Jede Altersstufe, jede Gesinnungsfahne, jede Literatur-
nüance hatte ihre Vertreter. Silbcrhaare und Jugendlocken, krebs-
füßige Conservative und sicbenmeilenstiefliger Radikalismus, mondbe-
glänzte Lyrik und Differential-Zölle-Phantasie, Panialiduftige Sa¬
lonsliteratur und kurzstämmige Volkskalendcr, hastiger Journalismus
und behagliche Romancorpulenz, gehetzte Bühnendichtung und mord¬
süchtige Kritik, ungekämmte Originalitätssucht und geschmeidige Ueber¬
setzungskunst, schwäbische Gemüthlichkeit und berliner Ironie. Jedes
fand seine Repräsentanten bei diesem sonderbaren Congresse. Drei volle
Tage haben wir debattirt vom Sonnenaufgang bis zum Sonnennie¬
dergang mit einer Ruhe, mit einer Besonnenheit, mit einer parlamen¬
tarischen Negelrechtigkeit, mit einer militärischen Disciplin, wie kein
Grenadierregiment sich dessen besser rühmen kann.

Man hat auswärts behauptet, wir würden uns blamiren, wir
aber haben diese Vorurtheile zu Schanden gemacht, wir gingen am
Abend der drei Leipziger Tage mit großer Selbstzufriedenheit aus
einander.

O hätten wir uns blamirt! Die traurigste Blamage liegt aber
darin, daß wir uns nicht blamirt haben. Keine Versammlung agio¬
tagelustiger Actionäre, kein Meeting englischer Kattunfabrikanten kann
mit größerer Nüchternheit seine Calculs auseinandersetzen. Kein kur¬
hessisches Parlament kann mit umwickeltern Rudern den Jordan der
Discussion durchschiffen. Wir sprachen von Verlagsrechten durch vier¬
undsechzig Paragraphen und die Verleger ringsum auf den Auhörer-
bänken starrten mit offenem Munde, erschrocken über die kaltblütige
Praxis, über die mercantile Erfahrung, die aus einem Kreise ertönte,
den sie bisher als ein patriarchalisches, träumerisches Volk ihrem väter¬
lichen Gouvernement unterworfen sahen. Sind wir die Buchhändler,
fragten sie sich, oder sind es diese? Wehe uns! Die Schriftsteller sind
Buchhändler geworden -- wer wird nun Schriftsteller sein?

In drri Paragraphen wurde die Einführung von Schiedsge¬
richten (unter Literaten, Buchhändlern -c.) verhandelt und angenom¬
men; wir berührten unmittelbar das Feld der Rechtspflege, der wun¬
desten Stelle im deutschen Staatenleben. Aber Niemand erhob sich
zu einem begeisterten, zündenden Worte. Ihr Revolutionsriecher, die
ihr die Mainzer Advocatenversammlung verboten habt, hattet ihr die
stille Gemüthlichkeit beobachten können, mit welcher wir über den
vulcanischen Boden hinweg kletterten, ihr hättet Euch reuig die Köpfe
gekratzt über die unnöthige Vorsicht, die zur alten Unpopularität noch


III.
Die erste Schriftstellerversammlung in Leipzig.

Sie hat wirklich stattgefunden! Neun und neunzig Köpfe waren
beisammen. Jede Altersstufe, jede Gesinnungsfahne, jede Literatur-
nüance hatte ihre Vertreter. Silbcrhaare und Jugendlocken, krebs-
füßige Conservative und sicbenmeilenstiefliger Radikalismus, mondbe-
glänzte Lyrik und Differential-Zölle-Phantasie, Panialiduftige Sa¬
lonsliteratur und kurzstämmige Volkskalendcr, hastiger Journalismus
und behagliche Romancorpulenz, gehetzte Bühnendichtung und mord¬
süchtige Kritik, ungekämmte Originalitätssucht und geschmeidige Ueber¬
setzungskunst, schwäbische Gemüthlichkeit und berliner Ironie. Jedes
fand seine Repräsentanten bei diesem sonderbaren Congresse. Drei volle
Tage haben wir debattirt vom Sonnenaufgang bis zum Sonnennie¬
dergang mit einer Ruhe, mit einer Besonnenheit, mit einer parlamen¬
tarischen Negelrechtigkeit, mit einer militärischen Disciplin, wie kein
Grenadierregiment sich dessen besser rühmen kann.

Man hat auswärts behauptet, wir würden uns blamiren, wir
aber haben diese Vorurtheile zu Schanden gemacht, wir gingen am
Abend der drei Leipziger Tage mit großer Selbstzufriedenheit aus
einander.

O hätten wir uns blamirt! Die traurigste Blamage liegt aber
darin, daß wir uns nicht blamirt haben. Keine Versammlung agio¬
tagelustiger Actionäre, kein Meeting englischer Kattunfabrikanten kann
mit größerer Nüchternheit seine Calculs auseinandersetzen. Kein kur¬
hessisches Parlament kann mit umwickeltern Rudern den Jordan der
Discussion durchschiffen. Wir sprachen von Verlagsrechten durch vier¬
undsechzig Paragraphen und die Verleger ringsum auf den Auhörer-
bänken starrten mit offenem Munde, erschrocken über die kaltblütige
Praxis, über die mercantile Erfahrung, die aus einem Kreise ertönte,
den sie bisher als ein patriarchalisches, träumerisches Volk ihrem väter¬
lichen Gouvernement unterworfen sahen. Sind wir die Buchhändler,
fragten sie sich, oder sind es diese? Wehe uns! Die Schriftsteller sind
Buchhändler geworden — wer wird nun Schriftsteller sein?

In drri Paragraphen wurde die Einführung von Schiedsge¬
richten (unter Literaten, Buchhändlern -c.) verhandelt und angenom¬
men; wir berührten unmittelbar das Feld der Rechtspflege, der wun¬
desten Stelle im deutschen Staatenleben. Aber Niemand erhob sich
zu einem begeisterten, zündenden Worte. Ihr Revolutionsriecher, die
ihr die Mainzer Advocatenversammlung verboten habt, hattet ihr die
stille Gemüthlichkeit beobachten können, mit welcher wir über den
vulcanischen Boden hinweg kletterten, ihr hättet Euch reuig die Köpfe
gekratzt über die unnöthige Vorsicht, die zur alten Unpopularität noch


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[0286] III. Die erste Schriftstellerversammlung in Leipzig. Sie hat wirklich stattgefunden! Neun und neunzig Köpfe waren beisammen. Jede Altersstufe, jede Gesinnungsfahne, jede Literatur- nüance hatte ihre Vertreter. Silbcrhaare und Jugendlocken, krebs- füßige Conservative und sicbenmeilenstiefliger Radikalismus, mondbe- glänzte Lyrik und Differential-Zölle-Phantasie, Panialiduftige Sa¬ lonsliteratur und kurzstämmige Volkskalendcr, hastiger Journalismus und behagliche Romancorpulenz, gehetzte Bühnendichtung und mord¬ süchtige Kritik, ungekämmte Originalitätssucht und geschmeidige Ueber¬ setzungskunst, schwäbische Gemüthlichkeit und berliner Ironie. Jedes fand seine Repräsentanten bei diesem sonderbaren Congresse. Drei volle Tage haben wir debattirt vom Sonnenaufgang bis zum Sonnennie¬ dergang mit einer Ruhe, mit einer Besonnenheit, mit einer parlamen¬ tarischen Negelrechtigkeit, mit einer militärischen Disciplin, wie kein Grenadierregiment sich dessen besser rühmen kann. Man hat auswärts behauptet, wir würden uns blamiren, wir aber haben diese Vorurtheile zu Schanden gemacht, wir gingen am Abend der drei Leipziger Tage mit großer Selbstzufriedenheit aus einander. O hätten wir uns blamirt! Die traurigste Blamage liegt aber darin, daß wir uns nicht blamirt haben. Keine Versammlung agio¬ tagelustiger Actionäre, kein Meeting englischer Kattunfabrikanten kann mit größerer Nüchternheit seine Calculs auseinandersetzen. Kein kur¬ hessisches Parlament kann mit umwickeltern Rudern den Jordan der Discussion durchschiffen. Wir sprachen von Verlagsrechten durch vier¬ undsechzig Paragraphen und die Verleger ringsum auf den Auhörer- bänken starrten mit offenem Munde, erschrocken über die kaltblütige Praxis, über die mercantile Erfahrung, die aus einem Kreise ertönte, den sie bisher als ein patriarchalisches, träumerisches Volk ihrem väter¬ lichen Gouvernement unterworfen sahen. Sind wir die Buchhändler, fragten sie sich, oder sind es diese? Wehe uns! Die Schriftsteller sind Buchhändler geworden — wer wird nun Schriftsteller sein? In drri Paragraphen wurde die Einführung von Schiedsge¬ richten (unter Literaten, Buchhändlern -c.) verhandelt und angenom¬ men; wir berührten unmittelbar das Feld der Rechtspflege, der wun¬ desten Stelle im deutschen Staatenleben. Aber Niemand erhob sich zu einem begeisterten, zündenden Worte. Ihr Revolutionsriecher, die ihr die Mainzer Advocatenversammlung verboten habt, hattet ihr die stille Gemüthlichkeit beobachten können, mit welcher wir über den vulcanischen Boden hinweg kletterten, ihr hättet Euch reuig die Köpfe gekratzt über die unnöthige Vorsicht, die zur alten Unpopularität noch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_270058/286>, abgerufen am 27.04.2024.