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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester. II. Band.

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Die reine Willkürherrschaft als vorherrschendes System scheint
in ganz Europa, selbst mit Hinzurechnung der Türkei und alleiniger
Ausnahme Rußlands, für immer abgethan zu sein. Keinem euro¬
päischen Monarchen wird es wohl mehr einfallen, unter seine Befehle
den Beweggrund zu setzen: ,,(^r t":I v8t iwti-e >,Iiäb>ii!" und kein
Minister den übermüthigen Ausspruch jenes Günstlings einer Kaise¬
rin zu wiederholen magen: "Das Volk ist die Milchkuh, die Kaise¬
rin die Milchmagd, und ich verspeise die Sahne." Die Herrschaft
diebischer Günstlinge, Mätressen und Kupplerinnen ist unmöglich ge¬
worden, der Uebermuth des Adels ist zu seinem eigenen Heil ziem¬
lich gedemüthigt, die Adelsprobe allein gibt heut zu Tage nur noch
auf vornehmere Hofbedientenämter ein ausschließliches Recht, und
selbst die Stellung, welche der Reichthum gewährt, ist bei strengerer
Betrachtung mehr ein Besessenwerden als ein Besitzen. Adel und
Reichthum müssen sich vor dem Talente beugen und können nur durch
das Talent zu höherer Bedeutung und Wirksamkeit erhoben werden;
deshalb ist heut zu Tage derjenige Stand, dessen Adel und Reichthum
eben das Talent ist, der Bürgerstand, urrechtlich und factisch überall
und hier und da auch schon gesetzlich die herrschende Macht aller
civilisirten Staaten, und selbst der Bauernstand, die Wurzel deö Bür-
gerstandes, genießt, obwohl er leider noch immer für überflüssige und
schädliche Zwischenobrigkeiten arbeiten muß, doch eine größere und
gesetzlich festere Rcchtsfreiheit, als vor fünfzig Jahren die Obrigkei¬
ten selber.

Dieses in Vergleich mit dem Elend, dessen sich noch viele jetzt
Lebende aus eigener Erfahrung erinnern, in der That sehr große
politische Heil verdankt die Welt der endlichen Anerkennung deS


Grenzboten I84S. II. 45
Opposition „ach unten



Die reine Willkürherrschaft als vorherrschendes System scheint
in ganz Europa, selbst mit Hinzurechnung der Türkei und alleiniger
Ausnahme Rußlands, für immer abgethan zu sein. Keinem euro¬
päischen Monarchen wird es wohl mehr einfallen, unter seine Befehle
den Beweggrund zu setzen: ,,(^r t«:I v8t iwti-e >,Iiäb>ii!" und kein
Minister den übermüthigen Ausspruch jenes Günstlings einer Kaise¬
rin zu wiederholen magen: „Das Volk ist die Milchkuh, die Kaise¬
rin die Milchmagd, und ich verspeise die Sahne." Die Herrschaft
diebischer Günstlinge, Mätressen und Kupplerinnen ist unmöglich ge¬
worden, der Uebermuth des Adels ist zu seinem eigenen Heil ziem¬
lich gedemüthigt, die Adelsprobe allein gibt heut zu Tage nur noch
auf vornehmere Hofbedientenämter ein ausschließliches Recht, und
selbst die Stellung, welche der Reichthum gewährt, ist bei strengerer
Betrachtung mehr ein Besessenwerden als ein Besitzen. Adel und
Reichthum müssen sich vor dem Talente beugen und können nur durch
das Talent zu höherer Bedeutung und Wirksamkeit erhoben werden;
deshalb ist heut zu Tage derjenige Stand, dessen Adel und Reichthum
eben das Talent ist, der Bürgerstand, urrechtlich und factisch überall
und hier und da auch schon gesetzlich die herrschende Macht aller
civilisirten Staaten, und selbst der Bauernstand, die Wurzel deö Bür-
gerstandes, genießt, obwohl er leider noch immer für überflüssige und
schädliche Zwischenobrigkeiten arbeiten muß, doch eine größere und
gesetzlich festere Rcchtsfreiheit, als vor fünfzig Jahren die Obrigkei¬
ten selber.

Dieses in Vergleich mit dem Elend, dessen sich noch viele jetzt
Lebende aus eigener Erfahrung erinnern, in der That sehr große
politische Heil verdankt die Welt der endlichen Anerkennung deS


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[0353] Opposition „ach unten Die reine Willkürherrschaft als vorherrschendes System scheint in ganz Europa, selbst mit Hinzurechnung der Türkei und alleiniger Ausnahme Rußlands, für immer abgethan zu sein. Keinem euro¬ päischen Monarchen wird es wohl mehr einfallen, unter seine Befehle den Beweggrund zu setzen: ,,(^r t«:I v8t iwti-e >,Iiäb>ii!" und kein Minister den übermüthigen Ausspruch jenes Günstlings einer Kaise¬ rin zu wiederholen magen: „Das Volk ist die Milchkuh, die Kaise¬ rin die Milchmagd, und ich verspeise die Sahne." Die Herrschaft diebischer Günstlinge, Mätressen und Kupplerinnen ist unmöglich ge¬ worden, der Uebermuth des Adels ist zu seinem eigenen Heil ziem¬ lich gedemüthigt, die Adelsprobe allein gibt heut zu Tage nur noch auf vornehmere Hofbedientenämter ein ausschließliches Recht, und selbst die Stellung, welche der Reichthum gewährt, ist bei strengerer Betrachtung mehr ein Besessenwerden als ein Besitzen. Adel und Reichthum müssen sich vor dem Talente beugen und können nur durch das Talent zu höherer Bedeutung und Wirksamkeit erhoben werden; deshalb ist heut zu Tage derjenige Stand, dessen Adel und Reichthum eben das Talent ist, der Bürgerstand, urrechtlich und factisch überall und hier und da auch schon gesetzlich die herrschende Macht aller civilisirten Staaten, und selbst der Bauernstand, die Wurzel deö Bür- gerstandes, genießt, obwohl er leider noch immer für überflüssige und schädliche Zwischenobrigkeiten arbeiten muß, doch eine größere und gesetzlich festere Rcchtsfreiheit, als vor fünfzig Jahren die Obrigkei¬ ten selber. Dieses in Vergleich mit dem Elend, dessen sich noch viele jetzt Lebende aus eigener Erfahrung erinnern, in der That sehr große politische Heil verdankt die Welt der endlichen Anerkennung deS Grenzboten I84S. II. 45

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_270058/353>, abgerufen am 27.04.2024.