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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester. II. Band.

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Nassau und die beide" Hessen
Ein Bruchstück vergleichender Topographie.



Man hat es beklagt, daß auf dem Congreß zu Wien der Plan
durchgefallen sei, Deutschland wieder nach seinen natürlichen Stam-
mesnüancen in Gaue zu theilen. Nun haben freilich die Grenz¬
linien, welche damals diplomatische Federn zogen, wunderlich in die
Kreuz und Quere durchschnitten, was in uralter Verwandtschaft geei¬
nigt, zusammengeheftet, was in tief begründetem Unterschiede getrennt
war; aber die Weltgeschichte ist gleich jenen glücklichen Sterblichen,
die in allem Schlimmen, das über sie kommt, sich doch immer wie¬
der einer guten Seite zu freuen wissen, und wo auch im Einzelnen
bei jener staatsmännischen Riesenarbeit dieser oder jener Fehler un¬
tergelaufen, da hat sie doch auch aus dem Verfehlten ein Heil er-
sprießen lassen.

Betrachten wir auf der Karte die beiden Hessen und Nassau.
Nichts scheint z. B. unnatürlicher, als die südöstliche Grenzlinie des
letzten Landes; sie schneidet durch die Wetterau, während ein Paar
Meilen weiter westlich die Höhen des Taunus eine entschiedene na¬
türliche Grenze bilden; der nassauische Rheingau hängt ganz unver¬
kennbar eng mit dem angrenzenden Theile von Rheinhessen zusam¬
men, die ganze Kultur, die historische" Erinnerungen seiner Bewoh¬
ner, ihre Konfession, ihre Sinnesart knüpft sie an Mainz; der We-
sterwald zieht sich im Norden Nassaus in's Preußische hinüber, hier
ist die Grenze am aller capriciöscstcn gezeichnet, nicht einmal ein
Vächlein, ein Thal, ein Höhenzug rechtfertigt ihren mäandrischen
Lauf quer über das Gebirg: der kleinere Abschnitt des nunmehr preu¬
ßischen Westerwaldes ist von Haus aus nassauisch, aber die poli-


Grciljtotcn, 18is. II. 61
Nassau und die beide« Hessen
Ein Bruchstück vergleichender Topographie.



Man hat es beklagt, daß auf dem Congreß zu Wien der Plan
durchgefallen sei, Deutschland wieder nach seinen natürlichen Stam-
mesnüancen in Gaue zu theilen. Nun haben freilich die Grenz¬
linien, welche damals diplomatische Federn zogen, wunderlich in die
Kreuz und Quere durchschnitten, was in uralter Verwandtschaft geei¬
nigt, zusammengeheftet, was in tief begründetem Unterschiede getrennt
war; aber die Weltgeschichte ist gleich jenen glücklichen Sterblichen,
die in allem Schlimmen, das über sie kommt, sich doch immer wie¬
der einer guten Seite zu freuen wissen, und wo auch im Einzelnen
bei jener staatsmännischen Riesenarbeit dieser oder jener Fehler un¬
tergelaufen, da hat sie doch auch aus dem Verfehlten ein Heil er-
sprießen lassen.

Betrachten wir auf der Karte die beiden Hessen und Nassau.
Nichts scheint z. B. unnatürlicher, als die südöstliche Grenzlinie des
letzten Landes; sie schneidet durch die Wetterau, während ein Paar
Meilen weiter westlich die Höhen des Taunus eine entschiedene na¬
türliche Grenze bilden; der nassauische Rheingau hängt ganz unver¬
kennbar eng mit dem angrenzenden Theile von Rheinhessen zusam¬
men, die ganze Kultur, die historische» Erinnerungen seiner Bewoh¬
ner, ihre Konfession, ihre Sinnesart knüpft sie an Mainz; der We-
sterwald zieht sich im Norden Nassaus in's Preußische hinüber, hier
ist die Grenze am aller capriciöscstcn gezeichnet, nicht einmal ein
Vächlein, ein Thal, ein Höhenzug rechtfertigt ihren mäandrischen
Lauf quer über das Gebirg: der kleinere Abschnitt des nunmehr preu¬
ßischen Westerwaldes ist von Haus aus nassauisch, aber die poli-


Grciljtotcn, 18is. II. 61
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[0477] Nassau und die beide« Hessen Ein Bruchstück vergleichender Topographie. Man hat es beklagt, daß auf dem Congreß zu Wien der Plan durchgefallen sei, Deutschland wieder nach seinen natürlichen Stam- mesnüancen in Gaue zu theilen. Nun haben freilich die Grenz¬ linien, welche damals diplomatische Federn zogen, wunderlich in die Kreuz und Quere durchschnitten, was in uralter Verwandtschaft geei¬ nigt, zusammengeheftet, was in tief begründetem Unterschiede getrennt war; aber die Weltgeschichte ist gleich jenen glücklichen Sterblichen, die in allem Schlimmen, das über sie kommt, sich doch immer wie¬ der einer guten Seite zu freuen wissen, und wo auch im Einzelnen bei jener staatsmännischen Riesenarbeit dieser oder jener Fehler un¬ tergelaufen, da hat sie doch auch aus dem Verfehlten ein Heil er- sprießen lassen. Betrachten wir auf der Karte die beiden Hessen und Nassau. Nichts scheint z. B. unnatürlicher, als die südöstliche Grenzlinie des letzten Landes; sie schneidet durch die Wetterau, während ein Paar Meilen weiter westlich die Höhen des Taunus eine entschiedene na¬ türliche Grenze bilden; der nassauische Rheingau hängt ganz unver¬ kennbar eng mit dem angrenzenden Theile von Rheinhessen zusam¬ men, die ganze Kultur, die historische» Erinnerungen seiner Bewoh¬ ner, ihre Konfession, ihre Sinnesart knüpft sie an Mainz; der We- sterwald zieht sich im Norden Nassaus in's Preußische hinüber, hier ist die Grenze am aller capriciöscstcn gezeichnet, nicht einmal ein Vächlein, ein Thal, ein Höhenzug rechtfertigt ihren mäandrischen Lauf quer über das Gebirg: der kleinere Abschnitt des nunmehr preu¬ ßischen Westerwaldes ist von Haus aus nassauisch, aber die poli- Grciljtotcn, 18is. II. 61

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_270058/477>, abgerufen am 27.04.2024.