Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

einen so einsamen Turner denkt, zu lachen, statt zu weinen. Wahr¬
scheinlich würden die Leute, die das ersonnen haben, auf die Thür
dieser Zellen statt: ^"sei-le" oxin frei-ni,?.", schreiben: Frisch, fromm,
fröhlich und frei. Es wäre wenigstens eben so vernünftig.


VM.
Notizen.

Romanliteratur in Briefform. -- Entblätterte Rosen. -- Deutsche Leseanstal-
tcn. -- Ueberwiegende Gründe. Unglaubliches aus Berlin.

-- Es bleibt immer mißlich, Roman oder Novelle in Briefform
zu behandeln, da man bei dieser Darstellungsart nicht umhin kann,
dem eigenthümlichen Character der referirenden Person Zugeständnisse
zu machen, die leicht in Plauderei ausarten, und sich zu einem ern"
sten, streng gegliederten Kunstganzen nicht wohl fügen wollen. Dieser
Gefahr ist Se. Nelly in seiner jüngsten Novelle "das Haus der Nichte"
(Leipzig bei Ad. Wienbrack 1845) nicht entgangen, was freilich auch
um so schwieriger war, da eine auf Erziehungsgrundsätzen und Stan-
desgefühl einherstelzirende alte Jungfer als Trägerin der Correspon-
denz auftritt. Man verlangt nun einmal in neuerer Zeit, daß in
einer Novelle eine bestimmte Tendenz durchschlägt; eine solche ha¬
ben wir auch hier. Die Erziehungsgrundsätze der liauto voieo, so
häufig auf glänzende Oberflächlichkeit und matte Geistestünche be¬
rechnet, werden denen einer bescheidenen bürgerlichen Familie, die
nur für Häuslichkeit und prunklose Tugend lebt, gegenübergestellt
und so entwickelt, daß letztere den Sieg davon tragen. Die Idee ist
eben nicht neu; aber was weiter? Die Charaktere sind einfach in
gute und schlechte getheilt und mit der strengsten "poetischen Ge¬
rechtigkeit" durchgeführt, die guten werden vollständig glücklich, die
schl ...B.-^ echten vollständig unglücklich. Voila inne.

-- Es ist dieses Jahr spät Frühling geworden, und der Mai war
den Rosen nicht günstig. Sogar Heller's "Nosen" sind mehrere Wochen
hinter einander ausgeblieben, und nun hören wir, daß auch der Juni
und Juli keine mehr bringen wird, und die Blätter sammt dem Sten¬
gel von dem treulosen Gärtner, von dem Verleger Leo, im Stiche
gelassen werden. Es ist schöner, im Frühling, als im Herbst zu ster¬
ben, nur darf man dabei nicht die Erbschaft, d. h. die Abonnements-
gelder, zur Ostermesse eincassiren, wie es her erwähnte Verleger ge¬
than. Wir würden diese Sache unerwähnt lassen, wenn nicht dabei
ein persönlich unbescholtener Schriftsteller das Opfer würde. Herr Ro¬
bert Heller war nur der Redgct,cur, keineswegs der Eigenthümer des
Blattes. Durch das Verfahren seines Buchhändlers könnte aber leicht
Mancher im Publicum ihn selbst für etwas verantwortlich machen,
wobei er nicht betheiligt ist. Wir können den Nosen keinen glänzen¬
den Nekrolog schreiben; der Redacteur that, was Man mit so gexin-


einen so einsamen Turner denkt, zu lachen, statt zu weinen. Wahr¬
scheinlich würden die Leute, die das ersonnen haben, auf die Thür
dieser Zellen statt: ^»sei-le« oxin frei-ni,?.», schreiben: Frisch, fromm,
fröhlich und frei. Es wäre wenigstens eben so vernünftig.


VM.
Notizen.

Romanliteratur in Briefform. — Entblätterte Rosen. — Deutsche Leseanstal-
tcn. — Ueberwiegende Gründe. Unglaubliches aus Berlin.

— Es bleibt immer mißlich, Roman oder Novelle in Briefform
zu behandeln, da man bei dieser Darstellungsart nicht umhin kann,
dem eigenthümlichen Character der referirenden Person Zugeständnisse
zu machen, die leicht in Plauderei ausarten, und sich zu einem ern»
sten, streng gegliederten Kunstganzen nicht wohl fügen wollen. Dieser
Gefahr ist Se. Nelly in seiner jüngsten Novelle „das Haus der Nichte"
(Leipzig bei Ad. Wienbrack 1845) nicht entgangen, was freilich auch
um so schwieriger war, da eine auf Erziehungsgrundsätzen und Stan-
desgefühl einherstelzirende alte Jungfer als Trägerin der Correspon-
denz auftritt. Man verlangt nun einmal in neuerer Zeit, daß in
einer Novelle eine bestimmte Tendenz durchschlägt; eine solche ha¬
ben wir auch hier. Die Erziehungsgrundsätze der liauto voieo, so
häufig auf glänzende Oberflächlichkeit und matte Geistestünche be¬
rechnet, werden denen einer bescheidenen bürgerlichen Familie, die
nur für Häuslichkeit und prunklose Tugend lebt, gegenübergestellt
und so entwickelt, daß letztere den Sieg davon tragen. Die Idee ist
eben nicht neu; aber was weiter? Die Charaktere sind einfach in
gute und schlechte getheilt und mit der strengsten „poetischen Ge¬
rechtigkeit" durchgeführt, die guten werden vollständig glücklich, die
schl ...B.-^ echten vollständig unglücklich. Voila inne.

— Es ist dieses Jahr spät Frühling geworden, und der Mai war
den Rosen nicht günstig. Sogar Heller's „Nosen" sind mehrere Wochen
hinter einander ausgeblieben, und nun hören wir, daß auch der Juni
und Juli keine mehr bringen wird, und die Blätter sammt dem Sten¬
gel von dem treulosen Gärtner, von dem Verleger Leo, im Stiche
gelassen werden. Es ist schöner, im Frühling, als im Herbst zu ster¬
ben, nur darf man dabei nicht die Erbschaft, d. h. die Abonnements-
gelder, zur Ostermesse eincassiren, wie es her erwähnte Verleger ge¬
than. Wir würden diese Sache unerwähnt lassen, wenn nicht dabei
ein persönlich unbescholtener Schriftsteller das Opfer würde. Herr Ro¬
bert Heller war nur der Redgct,cur, keineswegs der Eigenthümer des
Blattes. Durch das Verfahren seines Buchhändlers könnte aber leicht
Mancher im Publicum ihn selbst für etwas verantwortlich machen,
wobei er nicht betheiligt ist. Wir können den Nosen keinen glänzen¬
den Nekrolog schreiben; der Redacteur that, was Man mit so gexin-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0558" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/270617"/>
            <p xml:id="ID_1533" prev="#ID_1532"> einen so einsamen Turner denkt, zu lachen, statt zu weinen. Wahr¬<lb/>
scheinlich würden die Leute, die das ersonnen haben, auf die Thür<lb/>
dieser Zellen statt: ^»sei-le« oxin frei-ni,?.», schreiben: Frisch, fromm,<lb/>
fröhlich und frei.  Es wäre wenigstens eben so vernünftig.</p><lb/>
          </div>
          <div n="2">
            <head> VM.<lb/>
Notizen.</head><lb/>
            <note type="argument"> Romanliteratur in Briefform. &#x2014; Entblätterte Rosen. &#x2014; Deutsche Leseanstal-<lb/>
tcn. &#x2014; Ueberwiegende Gründe.   Unglaubliches aus Berlin.</note><lb/>
            <p xml:id="ID_1534"> &#x2014; Es bleibt immer mißlich, Roman oder Novelle in Briefform<lb/>
zu behandeln, da man bei dieser Darstellungsart nicht umhin kann,<lb/>
dem eigenthümlichen Character der referirenden Person Zugeständnisse<lb/>
zu machen, die leicht in Plauderei ausarten, und sich zu einem ern»<lb/>
sten, streng gegliederten Kunstganzen nicht wohl fügen wollen. Dieser<lb/>
Gefahr ist Se. Nelly in seiner jüngsten Novelle &#x201E;das Haus der Nichte"<lb/>
(Leipzig bei Ad. Wienbrack 1845) nicht entgangen, was freilich auch<lb/>
um so schwieriger war, da eine auf Erziehungsgrundsätzen und Stan-<lb/>
desgefühl einherstelzirende alte Jungfer als Trägerin der Correspon-<lb/>
denz auftritt. Man verlangt nun einmal in neuerer Zeit, daß in<lb/>
einer Novelle eine bestimmte Tendenz durchschlägt; eine solche ha¬<lb/>
ben wir auch hier. Die Erziehungsgrundsätze der liauto voieo, so<lb/>
häufig auf glänzende Oberflächlichkeit und matte Geistestünche be¬<lb/>
rechnet, werden denen einer bescheidenen bürgerlichen Familie, die<lb/>
nur für Häuslichkeit und prunklose Tugend lebt, gegenübergestellt<lb/>
und so entwickelt, daß letztere den Sieg davon tragen. Die Idee ist<lb/>
eben nicht neu; aber was weiter? Die Charaktere sind einfach in<lb/>
gute und schlechte getheilt und mit der strengsten &#x201E;poetischen Ge¬<lb/>
rechtigkeit" durchgeführt, die guten werden vollständig glücklich, die<lb/>
schl<note type="byline"> ...B.-^</note> echten vollständig unglücklich.  Voila inne. </p><lb/>
            <p xml:id="ID_1535" next="#ID_1536"> &#x2014; Es ist dieses Jahr spät Frühling geworden, und der Mai war<lb/>
den Rosen nicht günstig. Sogar Heller's &#x201E;Nosen" sind mehrere Wochen<lb/>
hinter einander ausgeblieben, und nun hören wir, daß auch der Juni<lb/>
und Juli keine mehr bringen wird, und die Blätter sammt dem Sten¬<lb/>
gel von dem treulosen Gärtner, von dem Verleger Leo, im Stiche<lb/>
gelassen werden. Es ist schöner, im Frühling, als im Herbst zu ster¬<lb/>
ben, nur darf man dabei nicht die Erbschaft, d. h. die Abonnements-<lb/>
gelder, zur Ostermesse eincassiren, wie es her erwähnte Verleger ge¬<lb/>
than. Wir würden diese Sache unerwähnt lassen, wenn nicht dabei<lb/>
ein persönlich unbescholtener Schriftsteller das Opfer würde. Herr Ro¬<lb/>
bert Heller war nur der Redgct,cur, keineswegs der Eigenthümer des<lb/>
Blattes. Durch das Verfahren seines Buchhändlers könnte aber leicht<lb/>
Mancher im Publicum ihn selbst für etwas verantwortlich machen,<lb/>
wobei er nicht betheiligt ist. Wir können den Nosen keinen glänzen¬<lb/>
den Nekrolog schreiben; der Redacteur that, was Man mit so gexin-</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0558] einen so einsamen Turner denkt, zu lachen, statt zu weinen. Wahr¬ scheinlich würden die Leute, die das ersonnen haben, auf die Thür dieser Zellen statt: ^»sei-le« oxin frei-ni,?.», schreiben: Frisch, fromm, fröhlich und frei. Es wäre wenigstens eben so vernünftig. VM. Notizen. Romanliteratur in Briefform. — Entblätterte Rosen. — Deutsche Leseanstal- tcn. — Ueberwiegende Gründe. Unglaubliches aus Berlin. — Es bleibt immer mißlich, Roman oder Novelle in Briefform zu behandeln, da man bei dieser Darstellungsart nicht umhin kann, dem eigenthümlichen Character der referirenden Person Zugeständnisse zu machen, die leicht in Plauderei ausarten, und sich zu einem ern» sten, streng gegliederten Kunstganzen nicht wohl fügen wollen. Dieser Gefahr ist Se. Nelly in seiner jüngsten Novelle „das Haus der Nichte" (Leipzig bei Ad. Wienbrack 1845) nicht entgangen, was freilich auch um so schwieriger war, da eine auf Erziehungsgrundsätzen und Stan- desgefühl einherstelzirende alte Jungfer als Trägerin der Correspon- denz auftritt. Man verlangt nun einmal in neuerer Zeit, daß in einer Novelle eine bestimmte Tendenz durchschlägt; eine solche ha¬ ben wir auch hier. Die Erziehungsgrundsätze der liauto voieo, so häufig auf glänzende Oberflächlichkeit und matte Geistestünche be¬ rechnet, werden denen einer bescheidenen bürgerlichen Familie, die nur für Häuslichkeit und prunklose Tugend lebt, gegenübergestellt und so entwickelt, daß letztere den Sieg davon tragen. Die Idee ist eben nicht neu; aber was weiter? Die Charaktere sind einfach in gute und schlechte getheilt und mit der strengsten „poetischen Ge¬ rechtigkeit" durchgeführt, die guten werden vollständig glücklich, die schl ...B.-^ echten vollständig unglücklich. Voila inne. — Es ist dieses Jahr spät Frühling geworden, und der Mai war den Rosen nicht günstig. Sogar Heller's „Nosen" sind mehrere Wochen hinter einander ausgeblieben, und nun hören wir, daß auch der Juni und Juli keine mehr bringen wird, und die Blätter sammt dem Sten¬ gel von dem treulosen Gärtner, von dem Verleger Leo, im Stiche gelassen werden. Es ist schöner, im Frühling, als im Herbst zu ster¬ ben, nur darf man dabei nicht die Erbschaft, d. h. die Abonnements- gelder, zur Ostermesse eincassiren, wie es her erwähnte Verleger ge¬ than. Wir würden diese Sache unerwähnt lassen, wenn nicht dabei ein persönlich unbescholtener Schriftsteller das Opfer würde. Herr Ro¬ bert Heller war nur der Redgct,cur, keineswegs der Eigenthümer des Blattes. Durch das Verfahren seines Buchhändlers könnte aber leicht Mancher im Publicum ihn selbst für etwas verantwortlich machen, wobei er nicht betheiligt ist. Wir können den Nosen keinen glänzen¬ den Nekrolog schreiben; der Redacteur that, was Man mit so gexin-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_270058
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_270058/558
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_270058/558>, abgerufen am 27.04.2024.