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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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Glanz, behagliche Warme, schöne Damen in seidenen Gewän¬
dern schweben nach dem Tacte vollständiger Orchestermusik umher,
Gänseleberpasteten hauchen verführerische Düfte aus, Champagner¬
korke knallen hoch an die Decken, Alles athmet Lust und
Leben, Fülle und Genuß; wenige Schritte davon liegt in halb¬
zerfallener Dachkammer ohne Licht, Heizung, Nahrung eine ganze
Familie, Jung und Alt, krank wie gesund, Madchen wie Bursche,
kümmerlich mit Lumpen bedeckt, auf elendem Strohlager, und
Kälte und Hunger verdrängen selbst den wohlthätigen Schlaf, den
einzigen Tröster der Armen. Freilich das alte Lied! Aber wer kann
sich in einer Zeit üppiger Feste dieses Wehgefühls erwehren? Es ist
wie eine herbe Ironie, daß der Carneval diese Epoche der übermüthigsten
Lust, gerade in Monate fällt, in denen Kalte wie Mangel an Arbeit dem
Armen seine Lage doppelt drückend machen. Doch -- wir tanzen
dann einmal zum Besten der Armuth, oder hören, wenns hoch
kommt, ein Concert zu ihren Gunsten mit an, und unser Gewissen
ist vollkommen beschwichtigt.


V.
Zur Literatur über Rußland.

Seit Cüstine haben wir eine ganze große Bibliothek von Ent¬
hüllungen Rußlands erhalten. Aber, seien wir offen, Deutschland hat
bisher gerad das Unbedeutendste dafür geliefert. Und weil dennoch
jedes solche Buch von einer Menge von Journalen mit Ertase als
der Messias der vollen echten Wahrheit verkündet ward, während das
gläubige Publicum später meistens seine Hoffnungen getäuscht sah,
ist ein Mißtrauen über alle Maaßen großgewachsen gegen deutsche
Bücher über russische Zustände. Besonders gilt dies von den anonym
erschienenen Werken und von den sind - llismit Originalen gewisser
Firmen. Aber wie mag man dem großen Publicum eine solche ge¬
naue Scheidung der Bücher über Nußland zumuthen wollen, wie ihm
zumuthen, es soll die zuverlässigen und unzuverlässigen Verlagsfirmen
kennen? Einen großen Theil der Schuld, daß wir nichts Rechtes
und Volles erhalten, nicht einmal eine Specialität recht prägnant er¬
örtert sehen, mag allerdings die auch gegen Nußland rücksichtsvolle
Censur tragen. Aber alle Schuld kann man ihr nicht aufbürden.
Diese liegt vielmehr häufig an den deutschen Schriftstellern selbst,
welche Rußland als eine vollständige tsria incoAintii, voraussetzen,
daher immer wieder mit der Schilderung desselben von vorn anfan¬
gen, dabei zu Punkten kommen, bei denen ihnen die Galle über¬
läuft, darüber alle mögliche Reflexionen hcrangeschleppt bringen und
nun den eigentlichen Kern vorübergehen lassen, sich an äußerliche
schroffe Einzelheiten haltend, sich in ein paar charakteristische Anet-


Glanz, behagliche Warme, schöne Damen in seidenen Gewän¬
dern schweben nach dem Tacte vollständiger Orchestermusik umher,
Gänseleberpasteten hauchen verführerische Düfte aus, Champagner¬
korke knallen hoch an die Decken, Alles athmet Lust und
Leben, Fülle und Genuß; wenige Schritte davon liegt in halb¬
zerfallener Dachkammer ohne Licht, Heizung, Nahrung eine ganze
Familie, Jung und Alt, krank wie gesund, Madchen wie Bursche,
kümmerlich mit Lumpen bedeckt, auf elendem Strohlager, und
Kälte und Hunger verdrängen selbst den wohlthätigen Schlaf, den
einzigen Tröster der Armen. Freilich das alte Lied! Aber wer kann
sich in einer Zeit üppiger Feste dieses Wehgefühls erwehren? Es ist
wie eine herbe Ironie, daß der Carneval diese Epoche der übermüthigsten
Lust, gerade in Monate fällt, in denen Kalte wie Mangel an Arbeit dem
Armen seine Lage doppelt drückend machen. Doch — wir tanzen
dann einmal zum Besten der Armuth, oder hören, wenns hoch
kommt, ein Concert zu ihren Gunsten mit an, und unser Gewissen
ist vollkommen beschwichtigt.


V.
Zur Literatur über Rußland.

Seit Cüstine haben wir eine ganze große Bibliothek von Ent¬
hüllungen Rußlands erhalten. Aber, seien wir offen, Deutschland hat
bisher gerad das Unbedeutendste dafür geliefert. Und weil dennoch
jedes solche Buch von einer Menge von Journalen mit Ertase als
der Messias der vollen echten Wahrheit verkündet ward, während das
gläubige Publicum später meistens seine Hoffnungen getäuscht sah,
ist ein Mißtrauen über alle Maaßen großgewachsen gegen deutsche
Bücher über russische Zustände. Besonders gilt dies von den anonym
erschienenen Werken und von den sind - llismit Originalen gewisser
Firmen. Aber wie mag man dem großen Publicum eine solche ge¬
naue Scheidung der Bücher über Nußland zumuthen wollen, wie ihm
zumuthen, es soll die zuverlässigen und unzuverlässigen Verlagsfirmen
kennen? Einen großen Theil der Schuld, daß wir nichts Rechtes
und Volles erhalten, nicht einmal eine Specialität recht prägnant er¬
örtert sehen, mag allerdings die auch gegen Nußland rücksichtsvolle
Censur tragen. Aber alle Schuld kann man ihr nicht aufbürden.
Diese liegt vielmehr häufig an den deutschen Schriftstellern selbst,
welche Rußland als eine vollständige tsria incoAintii, voraussetzen,
daher immer wieder mit der Schilderung desselben von vorn anfan¬
gen, dabei zu Punkten kommen, bei denen ihnen die Galle über¬
läuft, darüber alle mögliche Reflexionen hcrangeschleppt bringen und
nun den eigentlichen Kern vorübergehen lassen, sich an äußerliche
schroffe Einzelheiten haltend, sich in ein paar charakteristische Anet-


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[0292] Glanz, behagliche Warme, schöne Damen in seidenen Gewän¬ dern schweben nach dem Tacte vollständiger Orchestermusik umher, Gänseleberpasteten hauchen verführerische Düfte aus, Champagner¬ korke knallen hoch an die Decken, Alles athmet Lust und Leben, Fülle und Genuß; wenige Schritte davon liegt in halb¬ zerfallener Dachkammer ohne Licht, Heizung, Nahrung eine ganze Familie, Jung und Alt, krank wie gesund, Madchen wie Bursche, kümmerlich mit Lumpen bedeckt, auf elendem Strohlager, und Kälte und Hunger verdrängen selbst den wohlthätigen Schlaf, den einzigen Tröster der Armen. Freilich das alte Lied! Aber wer kann sich in einer Zeit üppiger Feste dieses Wehgefühls erwehren? Es ist wie eine herbe Ironie, daß der Carneval diese Epoche der übermüthigsten Lust, gerade in Monate fällt, in denen Kalte wie Mangel an Arbeit dem Armen seine Lage doppelt drückend machen. Doch — wir tanzen dann einmal zum Besten der Armuth, oder hören, wenns hoch kommt, ein Concert zu ihren Gunsten mit an, und unser Gewissen ist vollkommen beschwichtigt. V. Zur Literatur über Rußland. Seit Cüstine haben wir eine ganze große Bibliothek von Ent¬ hüllungen Rußlands erhalten. Aber, seien wir offen, Deutschland hat bisher gerad das Unbedeutendste dafür geliefert. Und weil dennoch jedes solche Buch von einer Menge von Journalen mit Ertase als der Messias der vollen echten Wahrheit verkündet ward, während das gläubige Publicum später meistens seine Hoffnungen getäuscht sah, ist ein Mißtrauen über alle Maaßen großgewachsen gegen deutsche Bücher über russische Zustände. Besonders gilt dies von den anonym erschienenen Werken und von den sind - llismit Originalen gewisser Firmen. Aber wie mag man dem großen Publicum eine solche ge¬ naue Scheidung der Bücher über Nußland zumuthen wollen, wie ihm zumuthen, es soll die zuverlässigen und unzuverlässigen Verlagsfirmen kennen? Einen großen Theil der Schuld, daß wir nichts Rechtes und Volles erhalten, nicht einmal eine Specialität recht prägnant er¬ örtert sehen, mag allerdings die auch gegen Nußland rücksichtsvolle Censur tragen. Aber alle Schuld kann man ihr nicht aufbürden. Diese liegt vielmehr häufig an den deutschen Schriftstellern selbst, welche Rußland als eine vollständige tsria incoAintii, voraussetzen, daher immer wieder mit der Schilderung desselben von vorn anfan¬ gen, dabei zu Punkten kommen, bei denen ihnen die Galle über¬ läuft, darüber alle mögliche Reflexionen hcrangeschleppt bringen und nun den eigentlichen Kern vorübergehen lassen, sich an äußerliche schroffe Einzelheiten haltend, sich in ein paar charakteristische Anet-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/292>, abgerufen am 29.04.2024.