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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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Die Sterblichkeit in unserer Zeit



Einer der falschen Gemeinplätze, die man am häusigsten vor¬
bringen hört, ist die Behauptung, daß die physische Kraft der Men-
schenrace von Geschlecht zu Geschlecht immer mehr abnähme. Ur¬
sprünglich von Schriftstellern ausgegangen, die gewissen Mißbräu¬
chen entgegenkämpfen und entartete Sitten zur Natur zurückführen
wollten, mit Beifall aufgenommen von allen Lobrednern der Ver¬
gangenheit, ist jener Irrthum zuletzt allgemein und populär gewor¬
den. Und da er einmal für eine Thatsache galt, wurde man auch
bald einig über den Grund derselben. Die Ursache jener traurigen
Nothwendigkeit, hieß es, ist -- die Civilisation. Man klagt daher
unsere politischen und socialen Zustände, unsere Lebensart, Denk¬
weise und Empfindungen an -- kurz Alles, wodurch wir uns von
den Barbaren oder Wilden unterscheiden.

Zum Theil ist dieser Irrthum schon von Denkenden widerlegt
worden, aber es dürste doch nicht uninteressant sein, die Resultate
einiger neueren Untersuchungen mitzutheilen, die man über jene
Frage angestellt hat. Die erwähnte Ansicht spricht sich gewöhnlich
in folgenden drei Sätzen aus: 1. Die Sterblichkeit habe in neuerer
Zeit zugenommen; 2. Die Dauer des menschlichen Lebens sei kür¬
zer geworden; 3. Endlich sei die Zahl der Krankheiten fortwäh¬
rend im Steigen begriffen.

Wir wollen diese drei Sätze, einen nach dem andern, prüfen,
und es wird sich zeigen, daß, in gewisser Beziehung, durchaus kein
Unterschied ist zwischen Sonst und Jetzt; daß, in vieler Hinsicht
eine offenbare Verbesserung stattgefunden hat; daß endlich die Ci-


Grenzl'oder es-i". I. ßg
Die Sterblichkeit in unserer Zeit



Einer der falschen Gemeinplätze, die man am häusigsten vor¬
bringen hört, ist die Behauptung, daß die physische Kraft der Men-
schenrace von Geschlecht zu Geschlecht immer mehr abnähme. Ur¬
sprünglich von Schriftstellern ausgegangen, die gewissen Mißbräu¬
chen entgegenkämpfen und entartete Sitten zur Natur zurückführen
wollten, mit Beifall aufgenommen von allen Lobrednern der Ver¬
gangenheit, ist jener Irrthum zuletzt allgemein und populär gewor¬
den. Und da er einmal für eine Thatsache galt, wurde man auch
bald einig über den Grund derselben. Die Ursache jener traurigen
Nothwendigkeit, hieß es, ist — die Civilisation. Man klagt daher
unsere politischen und socialen Zustände, unsere Lebensart, Denk¬
weise und Empfindungen an — kurz Alles, wodurch wir uns von
den Barbaren oder Wilden unterscheiden.

Zum Theil ist dieser Irrthum schon von Denkenden widerlegt
worden, aber es dürste doch nicht uninteressant sein, die Resultate
einiger neueren Untersuchungen mitzutheilen, die man über jene
Frage angestellt hat. Die erwähnte Ansicht spricht sich gewöhnlich
in folgenden drei Sätzen aus: 1. Die Sterblichkeit habe in neuerer
Zeit zugenommen; 2. Die Dauer des menschlichen Lebens sei kür¬
zer geworden; 3. Endlich sei die Zahl der Krankheiten fortwäh¬
rend im Steigen begriffen.

Wir wollen diese drei Sätze, einen nach dem andern, prüfen,
und es wird sich zeigen, daß, in gewisser Beziehung, durchaus kein
Unterschied ist zwischen Sonst und Jetzt; daß, in vieler Hinsicht
eine offenbare Verbesserung stattgefunden hat; daß endlich die Ci-


Grenzl'oder es-i«. I. ßg
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[0525] Die Sterblichkeit in unserer Zeit Einer der falschen Gemeinplätze, die man am häusigsten vor¬ bringen hört, ist die Behauptung, daß die physische Kraft der Men- schenrace von Geschlecht zu Geschlecht immer mehr abnähme. Ur¬ sprünglich von Schriftstellern ausgegangen, die gewissen Mißbräu¬ chen entgegenkämpfen und entartete Sitten zur Natur zurückführen wollten, mit Beifall aufgenommen von allen Lobrednern der Ver¬ gangenheit, ist jener Irrthum zuletzt allgemein und populär gewor¬ den. Und da er einmal für eine Thatsache galt, wurde man auch bald einig über den Grund derselben. Die Ursache jener traurigen Nothwendigkeit, hieß es, ist — die Civilisation. Man klagt daher unsere politischen und socialen Zustände, unsere Lebensart, Denk¬ weise und Empfindungen an — kurz Alles, wodurch wir uns von den Barbaren oder Wilden unterscheiden. Zum Theil ist dieser Irrthum schon von Denkenden widerlegt worden, aber es dürste doch nicht uninteressant sein, die Resultate einiger neueren Untersuchungen mitzutheilen, die man über jene Frage angestellt hat. Die erwähnte Ansicht spricht sich gewöhnlich in folgenden drei Sätzen aus: 1. Die Sterblichkeit habe in neuerer Zeit zugenommen; 2. Die Dauer des menschlichen Lebens sei kür¬ zer geworden; 3. Endlich sei die Zahl der Krankheiten fortwäh¬ rend im Steigen begriffen. Wir wollen diese drei Sätze, einen nach dem andern, prüfen, und es wird sich zeigen, daß, in gewisser Beziehung, durchaus kein Unterschied ist zwischen Sonst und Jetzt; daß, in vieler Hinsicht eine offenbare Verbesserung stattgefunden hat; daß endlich die Ci- Grenzl'oder es-i«. I. ßg

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/525>, abgerufen am 29.04.2024.