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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band.

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Wien s poetische Federn und Schwingen


Das Jahr 1802 gab der französischen und der deutschen Nation
zwee ihrer größten jetzt lebenden Dichter, im Jahre 1802 wurden Victor
Hugo und Nicolaus Lenau geboren.

In Ungarn, dem Land des süßen Weines und der süßen, schwer-
wüthigen Gesänge, deren uralte Melodien noch jetzt dieselben Empfin¬
dungen erwecken, aus denen sie entstanden; in Ungarn, wo sich die
Einflüsse des trägen, träumerischen Orients mit dem lebendigen, feuri¬
gen Element des Volkes zu einer Mischung edelsten Muthes und weich¬
ster, schwärmerischer Hingebung an die Reize der Natur und des Le¬
bens verbinden, -- stand die Wiege Nicolaus Lenau's und sein Herz
sog früh den Charakter seiner Heimath ein. Ohne die Theilnahme
an deutscher Bildung wäre er mit den Zigeunern gewandert, melan¬
cholischer Erinnerungen voll den Ausdruck seiner ihm selbst unverständ¬
lichen Sehnsucht in den alten Liedern "Naboczy's des Rebellen" su¬
chend. Die Traurigkeit, die später gedankenbelastct wie eine gewitter¬
schwere Wolke über seinem Leben hing, wäre im Gemüthe stecken ge¬
blieben, und Geige und Zimbel hätten hingereicht ihre Seufzer wie¬
derzugeben. Aber er verließ seine Heimath und widmete sich den Stu¬
dien. Seine Schwermuth trieb ihn fort und fort nach einer fernen,
unbekannten Befriedigung und wenn Faust in das Meer alles Wis¬
sens tauchte, um auf dem tiefsten, letzten Grund den Knoten zu finden,
in welchem sich alle Fäden des Daseins als in ihrem Uranfang zu¬
sammenschlingen, trachtete Lenau nur, noch von der Subjektivität set-



*) Aus einer im Lause der nächsten Monate erscheinenden größeren Schrift.
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Wien s poetische Federn und Schwingen


Das Jahr 1802 gab der französischen und der deutschen Nation
zwee ihrer größten jetzt lebenden Dichter, im Jahre 1802 wurden Victor
Hugo und Nicolaus Lenau geboren.

In Ungarn, dem Land des süßen Weines und der süßen, schwer-
wüthigen Gesänge, deren uralte Melodien noch jetzt dieselben Empfin¬
dungen erwecken, aus denen sie entstanden; in Ungarn, wo sich die
Einflüsse des trägen, träumerischen Orients mit dem lebendigen, feuri¬
gen Element des Volkes zu einer Mischung edelsten Muthes und weich¬
ster, schwärmerischer Hingebung an die Reize der Natur und des Le¬
bens verbinden, — stand die Wiege Nicolaus Lenau's und sein Herz
sog früh den Charakter seiner Heimath ein. Ohne die Theilnahme
an deutscher Bildung wäre er mit den Zigeunern gewandert, melan¬
cholischer Erinnerungen voll den Ausdruck seiner ihm selbst unverständ¬
lichen Sehnsucht in den alten Liedern „Naboczy's des Rebellen" su¬
chend. Die Traurigkeit, die später gedankenbelastct wie eine gewitter¬
schwere Wolke über seinem Leben hing, wäre im Gemüthe stecken ge¬
blieben, und Geige und Zimbel hätten hingereicht ihre Seufzer wie¬
derzugeben. Aber er verließ seine Heimath und widmete sich den Stu¬
dien. Seine Schwermuth trieb ihn fort und fort nach einer fernen,
unbekannten Befriedigung und wenn Faust in das Meer alles Wis¬
sens tauchte, um auf dem tiefsten, letzten Grund den Knoten zu finden,
in welchem sich alle Fäden des Daseins als in ihrem Uranfang zu¬
sammenschlingen, trachtete Lenau nur, noch von der Subjektivität set-



*) Aus einer im Lause der nächsten Monate erscheinenden größeren Schrift.
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[0449] Wien s poetische Federn und Schwingen Das Jahr 1802 gab der französischen und der deutschen Nation zwee ihrer größten jetzt lebenden Dichter, im Jahre 1802 wurden Victor Hugo und Nicolaus Lenau geboren. In Ungarn, dem Land des süßen Weines und der süßen, schwer- wüthigen Gesänge, deren uralte Melodien noch jetzt dieselben Empfin¬ dungen erwecken, aus denen sie entstanden; in Ungarn, wo sich die Einflüsse des trägen, träumerischen Orients mit dem lebendigen, feuri¬ gen Element des Volkes zu einer Mischung edelsten Muthes und weich¬ ster, schwärmerischer Hingebung an die Reize der Natur und des Le¬ bens verbinden, — stand die Wiege Nicolaus Lenau's und sein Herz sog früh den Charakter seiner Heimath ein. Ohne die Theilnahme an deutscher Bildung wäre er mit den Zigeunern gewandert, melan¬ cholischer Erinnerungen voll den Ausdruck seiner ihm selbst unverständ¬ lichen Sehnsucht in den alten Liedern „Naboczy's des Rebellen" su¬ chend. Die Traurigkeit, die später gedankenbelastct wie eine gewitter¬ schwere Wolke über seinem Leben hing, wäre im Gemüthe stecken ge¬ blieben, und Geige und Zimbel hätten hingereicht ihre Seufzer wie¬ derzugeben. Aber er verließ seine Heimath und widmete sich den Stu¬ dien. Seine Schwermuth trieb ihn fort und fort nach einer fernen, unbekannten Befriedigung und wenn Faust in das Meer alles Wis¬ sens tauchte, um auf dem tiefsten, letzten Grund den Knoten zu finden, in welchem sich alle Fäden des Daseins als in ihrem Uranfang zu¬ sammenschlingen, trachtete Lenau nur, noch von der Subjektivität set- *) Aus einer im Lause der nächsten Monate erscheinenden größeren Schrift. Grenzboten. HI. r«i<!. 6V

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020/449>, abgerufen am 04.05.2024.