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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band.

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Der Ball der großen Qper.



"Zu welchem Zwecke reisen Sie eigentlich nach Paris?" fragte mich der junge
Pole, der neben mir im Coupe des Eisenbahnwagens saß. "Zu welchem Zwecke?"
wiederholte ich. "Das ist nicht so leicht zu sagen. Ich reise nach Paris, um
Paris zu studiren, um einen Ueberblick über französische Zustände zu bekommen,
ja, um Deutschland besser begreifen zu lernen. Dann bin ich Arzt und will dort
die medizinischen Anstalten kennen lernen. Endlich ruft mich ein Etwas hin, was
ich uicht recht nennen kann; ich habe immer geglaubt, daß es sich dort, wo das
Leben am reichste" und vollsten braust, auch am nutzbringendsten leben lasse, und...."
-- "Bei mir", unterbrach mich der junge Mann, "ist die Ursache leichter anzugeben.
Ich reise nach Paris, um den Karneval mitzumachen. Der Pariser Carneval --
sehen Sie -- ist das einzige, was dieser grauen, farblosen Zeit aus den frohen
Tagen des alten Heidenthums zurückgeblieben ist. Der Carneval in Venedig,
einst so berühmt, ist jetzt todt, mausetodt; der Carneval in Rom -- ich hab' ihn
auch gesehen -- liegt im Sterben. Nur der Carneval von Paris lebt noch --
und lebt mit tausend Pulse". Wohl wagt er sich nicht bei Tage hervor. -- Sie
könnten am Faschingmontag durch ganz Paris gehe", ohne eine einzige Maske zu
scheu -- aber bei Nacht ist's anders. Bei Nacht rafft er sich auf, der arme, in
die Acht erklärte Gott der Heidenzeit, nimmt den tanscndfarbigen Mantel um, setzt
das alte Bacchantenhor" an die Lippen und ruft alle Menschen zu einem ungeheuren
Feste des Frohsinns zusammen. In einer Nacht besonders drängt er Alles her¬
vor, was er noch an alter Lust und altem Uebermuth hat -- es ist die Nacht des
letzten Opernballs. Wohl Ihnen, daß Sie noch zu rechter Zeit kommen, ihn an-
zusehen. Ihn zu versäumen, wäre ein Frevel."

Der Enthusiasmus des jungen Polen für den Pariser Carneval sollte für
mich im ersten Augenblick etwas Empörendes haben. Hat der junge Mensch im
Carneval 1847 schon den Carneval von 1846 vergessen? fragte ich mich selber.
Wie kann sich ein polnisches Herz erfreuen um die Zeit herum, die so viel tausend
polnische Herzen erbarmungslos zerschmetterte! -- Daun dachte ich mir: vielleicht
ist er aus einer Provinz, die jenem gräßlichen Gewitter ferne lag. Vielleicht hat


Der Ball der großen Qper.



„Zu welchem Zwecke reisen Sie eigentlich nach Paris?" fragte mich der junge
Pole, der neben mir im Coupe des Eisenbahnwagens saß. „Zu welchem Zwecke?"
wiederholte ich. „Das ist nicht so leicht zu sagen. Ich reise nach Paris, um
Paris zu studiren, um einen Ueberblick über französische Zustände zu bekommen,
ja, um Deutschland besser begreifen zu lernen. Dann bin ich Arzt und will dort
die medizinischen Anstalten kennen lernen. Endlich ruft mich ein Etwas hin, was
ich uicht recht nennen kann; ich habe immer geglaubt, daß es sich dort, wo das
Leben am reichste» und vollsten braust, auch am nutzbringendsten leben lasse, und...."
— „Bei mir", unterbrach mich der junge Mann, „ist die Ursache leichter anzugeben.
Ich reise nach Paris, um den Karneval mitzumachen. Der Pariser Carneval —
sehen Sie — ist das einzige, was dieser grauen, farblosen Zeit aus den frohen
Tagen des alten Heidenthums zurückgeblieben ist. Der Carneval in Venedig,
einst so berühmt, ist jetzt todt, mausetodt; der Carneval in Rom — ich hab' ihn
auch gesehen — liegt im Sterben. Nur der Carneval von Paris lebt noch —
und lebt mit tausend Pulse». Wohl wagt er sich nicht bei Tage hervor. — Sie
könnten am Faschingmontag durch ganz Paris gehe», ohne eine einzige Maske zu
scheu — aber bei Nacht ist's anders. Bei Nacht rafft er sich auf, der arme, in
die Acht erklärte Gott der Heidenzeit, nimmt den tanscndfarbigen Mantel um, setzt
das alte Bacchantenhor» an die Lippen und ruft alle Menschen zu einem ungeheuren
Feste des Frohsinns zusammen. In einer Nacht besonders drängt er Alles her¬
vor, was er noch an alter Lust und altem Uebermuth hat — es ist die Nacht des
letzten Opernballs. Wohl Ihnen, daß Sie noch zu rechter Zeit kommen, ihn an-
zusehen. Ihn zu versäumen, wäre ein Frevel."

Der Enthusiasmus des jungen Polen für den Pariser Carneval sollte für
mich im ersten Augenblick etwas Empörendes haben. Hat der junge Mensch im
Carneval 1847 schon den Carneval von 1846 vergessen? fragte ich mich selber.
Wie kann sich ein polnisches Herz erfreuen um die Zeit herum, die so viel tausend
polnische Herzen erbarmungslos zerschmetterte! — Daun dachte ich mir: vielleicht
ist er aus einer Provinz, die jenem gräßlichen Gewitter ferne lag. Vielleicht hat


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[0221] Der Ball der großen Qper. „Zu welchem Zwecke reisen Sie eigentlich nach Paris?" fragte mich der junge Pole, der neben mir im Coupe des Eisenbahnwagens saß. „Zu welchem Zwecke?" wiederholte ich. „Das ist nicht so leicht zu sagen. Ich reise nach Paris, um Paris zu studiren, um einen Ueberblick über französische Zustände zu bekommen, ja, um Deutschland besser begreifen zu lernen. Dann bin ich Arzt und will dort die medizinischen Anstalten kennen lernen. Endlich ruft mich ein Etwas hin, was ich uicht recht nennen kann; ich habe immer geglaubt, daß es sich dort, wo das Leben am reichste» und vollsten braust, auch am nutzbringendsten leben lasse, und...." — „Bei mir", unterbrach mich der junge Mann, „ist die Ursache leichter anzugeben. Ich reise nach Paris, um den Karneval mitzumachen. Der Pariser Carneval — sehen Sie — ist das einzige, was dieser grauen, farblosen Zeit aus den frohen Tagen des alten Heidenthums zurückgeblieben ist. Der Carneval in Venedig, einst so berühmt, ist jetzt todt, mausetodt; der Carneval in Rom — ich hab' ihn auch gesehen — liegt im Sterben. Nur der Carneval von Paris lebt noch — und lebt mit tausend Pulse». Wohl wagt er sich nicht bei Tage hervor. — Sie könnten am Faschingmontag durch ganz Paris gehe», ohne eine einzige Maske zu scheu — aber bei Nacht ist's anders. Bei Nacht rafft er sich auf, der arme, in die Acht erklärte Gott der Heidenzeit, nimmt den tanscndfarbigen Mantel um, setzt das alte Bacchantenhor» an die Lippen und ruft alle Menschen zu einem ungeheuren Feste des Frohsinns zusammen. In einer Nacht besonders drängt er Alles her¬ vor, was er noch an alter Lust und altem Uebermuth hat — es ist die Nacht des letzten Opernballs. Wohl Ihnen, daß Sie noch zu rechter Zeit kommen, ihn an- zusehen. Ihn zu versäumen, wäre ein Frevel." Der Enthusiasmus des jungen Polen für den Pariser Carneval sollte für mich im ersten Augenblick etwas Empörendes haben. Hat der junge Mensch im Carneval 1847 schon den Carneval von 1846 vergessen? fragte ich mich selber. Wie kann sich ein polnisches Herz erfreuen um die Zeit herum, die so viel tausend polnische Herzen erbarmungslos zerschmetterte! — Daun dachte ich mir: vielleicht ist er aus einer Provinz, die jenem gräßlichen Gewitter ferne lag. Vielleicht hat

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_184763/221>, abgerufen am 05.05.2024.