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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band.

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Menschenelend beizutragen, und ein dieser Bestimmung geweihtes Asyl, dessen
im Ganzen großartiges Wirken nicht verkannt, nicht in Abrede gestellt werden
soll, von Gebrechen zu befreien, die oft seine Wirksamkeit schmälern, oft so¬
gar den Balsam, den man hier erwartet, in Gift verwandeln.

Wir werden, um die vorzüglichsten Uebel klar und anschaulich zu schil¬
dern, den Kranken in das Spital begleiten und die Behandlung von der
Aufnahme bis zur Entlassung oder irdischen Auflösung genau schildern. Wir
gelangen auf diesen: Wege zuerst in das

I. Aufnahmczimmer, Journalzimmer genannt.

Hier soll vvrschriftmäßig stets ein Arzt zugegen sein; hier sind auch
die Kraukeuführer versammelt, deren Geschäft es ist, die hilfesucheudeu Lei¬
dende" auf die angewiesenen Abtheilungen zu bringen. In Gegenwart dieser
profanen, hiu und wieder etwas rohen Menschen, so wie in Anwesenheit
anderer Patienten, wird das Krankenexamen mit jedem einzelnen Leidenden
vorgenommen, ein öffentliches Verfahren der merkwürdigsten Art, das manche
unnöthige Schamröthe abdringt und zarter fühlende Seelen an der Schwelle
des Asyl's in Verzweiflung stürzt.

Die Kranken, die näher untersucht werden müssen, werden in eine an¬
stoßende kleine, durch ihre Unreinlichkeit abschreckende Kammer geführt, und
geben dem anwesenden gesunden und kranken Publikum Veranlassung zu ge¬
heimen und lauten Glossen, die nirgend den Menschenfreund mehr beleidigen
als hier im entweihten Sanctuarium Aesculap's. Diese Kammer zählt mit
Ausnahme einer schmutzigen Lagerstätte gar kein Möbelstück.

Das Jourualzimmer, in welchem eine anständige, von der Humanität
wie von der Wissenschaft gebotene Stille herrschen soll, bildet den Durch¬
gang für die Familie des anstoßend wohnenden Kanzleidieners! Doch damit
sind die hier herrschenden Uebelstände leider noch nicht erschöpft.

Da der Journaldienst, gegen die Vorschrift 'des 29. Absatzes der In-
struction für die Sccundarärzte, von unbesoldeten Prakticauten versehen wird,
welchen dieser Dienst keinen Anspruch auf Beförderung, keine Aussicht in die
Zukunft gewährt, so kommt es oft vor, daß gar kein Arzt in dem Auf-
uahmezimmer vorhanden ist, in welchem Falle die profanen Krankcnführer
die Stelle der Aerzte vertreten, und in der That die hilfesuchenden Kranken
nach ihrer eigenthümlichen Diagnose auf die Abtheilungen bringen. Dieses
ganz vorschriftwidrige Verfahren hat nicht selten entsetzliche Folgen. Wir
pollen einige Beispiele zur Warnung anführen.

Ein im ersten Stadium am Typhus Leidender ward in das Aufnahme-


Menschenelend beizutragen, und ein dieser Bestimmung geweihtes Asyl, dessen
im Ganzen großartiges Wirken nicht verkannt, nicht in Abrede gestellt werden
soll, von Gebrechen zu befreien, die oft seine Wirksamkeit schmälern, oft so¬
gar den Balsam, den man hier erwartet, in Gift verwandeln.

Wir werden, um die vorzüglichsten Uebel klar und anschaulich zu schil¬
dern, den Kranken in das Spital begleiten und die Behandlung von der
Aufnahme bis zur Entlassung oder irdischen Auflösung genau schildern. Wir
gelangen auf diesen: Wege zuerst in das

I. Aufnahmczimmer, Journalzimmer genannt.

Hier soll vvrschriftmäßig stets ein Arzt zugegen sein; hier sind auch
die Kraukeuführer versammelt, deren Geschäft es ist, die hilfesucheudeu Lei¬
dende» auf die angewiesenen Abtheilungen zu bringen. In Gegenwart dieser
profanen, hiu und wieder etwas rohen Menschen, so wie in Anwesenheit
anderer Patienten, wird das Krankenexamen mit jedem einzelnen Leidenden
vorgenommen, ein öffentliches Verfahren der merkwürdigsten Art, das manche
unnöthige Schamröthe abdringt und zarter fühlende Seelen an der Schwelle
des Asyl's in Verzweiflung stürzt.

Die Kranken, die näher untersucht werden müssen, werden in eine an¬
stoßende kleine, durch ihre Unreinlichkeit abschreckende Kammer geführt, und
geben dem anwesenden gesunden und kranken Publikum Veranlassung zu ge¬
heimen und lauten Glossen, die nirgend den Menschenfreund mehr beleidigen
als hier im entweihten Sanctuarium Aesculap's. Diese Kammer zählt mit
Ausnahme einer schmutzigen Lagerstätte gar kein Möbelstück.

Das Jourualzimmer, in welchem eine anständige, von der Humanität
wie von der Wissenschaft gebotene Stille herrschen soll, bildet den Durch¬
gang für die Familie des anstoßend wohnenden Kanzleidieners! Doch damit
sind die hier herrschenden Uebelstände leider noch nicht erschöpft.

Da der Journaldienst, gegen die Vorschrift 'des 29. Absatzes der In-
struction für die Sccundarärzte, von unbesoldeten Prakticauten versehen wird,
welchen dieser Dienst keinen Anspruch auf Beförderung, keine Aussicht in die
Zukunft gewährt, so kommt es oft vor, daß gar kein Arzt in dem Auf-
uahmezimmer vorhanden ist, in welchem Falle die profanen Krankcnführer
die Stelle der Aerzte vertreten, und in der That die hilfesuchenden Kranken
nach ihrer eigenthümlichen Diagnose auf die Abtheilungen bringen. Dieses
ganz vorschriftwidrige Verfahren hat nicht selten entsetzliche Folgen. Wir
pollen einige Beispiele zur Warnung anführen.

Ein im ersten Stadium am Typhus Leidender ward in das Aufnahme-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_271898/558>, abgerufen am 05.05.2024.