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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band.

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Die politische Pause in Frankreich.

Selten hat eine so vollkommene Windstille in dem pariser Leben ge¬
herrscht, wie in diesem Augenblicke. Man muß an den Ufern stehen, um
zu merken, daß das Meer, trotz der Ruhe seiner Oberfläche, dennoch den
ewigen Gesetzen der Bewegung nach wie vor gehorcht. Aber selbst an den
Ufern sind die Wellen der Brandung so unbedeutend, treten sie so geräusch¬
los vorwärts und zurück, daß man kaum die Nähe des furchtbaren Elements
erräth. Es gibt auch Leute genug, die'sich einbilden, daß es mit dem
französischen Volke aus und am Ende sei. Aber wer diesen Glauben theilen
und auf ihn bauen sollte, würde uoch oft genug Gelegenheit finden, sich zu
enttäuschen. Frankreich ist seit 1830 in eine Bahn hineingerathen, die nicht
zum Guten führt, auf der sich seine Kraft, wenn nicht sein guter Stern es
dereinst wieder aus ihr hinauswirft, höchst wahrscheinlich vollkommen ab¬
nutzen wird. Aber noch ist diese Kraft stark genug, dem Volke selbst auf dieser
Bahn die mächtigsten Anstrengungen zu erlauben. Die Sucht, rasch so reich
als möglich zu werden, hat das ganze Volk ergriffen und zehrt an seinem
gesunden Kern. Die Begeisterung für eine Idee, das ritterliche Wesen des
ehemaligen Frankreichs schwindet immer mehr; aber die materielle Kraft der
Nation ist nichts weniger als abgenutzt, ja wird durch den Geist, der sie
jetzt beherrscht, eher vermehrt als vermindert. Wo die Interessen Frank¬
reichs es zum Kampfe auffordern werden, wird sich sehr bald zeigen, daß
gegenwärtig die ganze prosaische und berechnende Kraft der Nation noch
immer Wunder zu thun im Stande. Es ist vielfach in derselben Lage, in
der England bereits seit einem Jahrhundert und länger ist. Auch hier fehlte
der höhere beseelende Funke, auch von England sagen schon seit einem Jahr¬
hundert die Denker daß es im Verfalle begriffen, während es immer



) So uyter andern, Rousseau und Friedrich >l.
Grknzbote". II. 1847.
Die politische Pause in Frankreich.

Selten hat eine so vollkommene Windstille in dem pariser Leben ge¬
herrscht, wie in diesem Augenblicke. Man muß an den Ufern stehen, um
zu merken, daß das Meer, trotz der Ruhe seiner Oberfläche, dennoch den
ewigen Gesetzen der Bewegung nach wie vor gehorcht. Aber selbst an den
Ufern sind die Wellen der Brandung so unbedeutend, treten sie so geräusch¬
los vorwärts und zurück, daß man kaum die Nähe des furchtbaren Elements
erräth. Es gibt auch Leute genug, die'sich einbilden, daß es mit dem
französischen Volke aus und am Ende sei. Aber wer diesen Glauben theilen
und auf ihn bauen sollte, würde uoch oft genug Gelegenheit finden, sich zu
enttäuschen. Frankreich ist seit 1830 in eine Bahn hineingerathen, die nicht
zum Guten führt, auf der sich seine Kraft, wenn nicht sein guter Stern es
dereinst wieder aus ihr hinauswirft, höchst wahrscheinlich vollkommen ab¬
nutzen wird. Aber noch ist diese Kraft stark genug, dem Volke selbst auf dieser
Bahn die mächtigsten Anstrengungen zu erlauben. Die Sucht, rasch so reich
als möglich zu werden, hat das ganze Volk ergriffen und zehrt an seinem
gesunden Kern. Die Begeisterung für eine Idee, das ritterliche Wesen des
ehemaligen Frankreichs schwindet immer mehr; aber die materielle Kraft der
Nation ist nichts weniger als abgenutzt, ja wird durch den Geist, der sie
jetzt beherrscht, eher vermehrt als vermindert. Wo die Interessen Frank¬
reichs es zum Kampfe auffordern werden, wird sich sehr bald zeigen, daß
gegenwärtig die ganze prosaische und berechnende Kraft der Nation noch
immer Wunder zu thun im Stande. Es ist vielfach in derselben Lage, in
der England bereits seit einem Jahrhundert und länger ist. Auch hier fehlte
der höhere beseelende Funke, auch von England sagen schon seit einem Jahr¬
hundert die Denker daß es im Verfalle begriffen, während es immer



) So uyter andern, Rousseau und Friedrich >l.
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[0057] Die politische Pause in Frankreich. Selten hat eine so vollkommene Windstille in dem pariser Leben ge¬ herrscht, wie in diesem Augenblicke. Man muß an den Ufern stehen, um zu merken, daß das Meer, trotz der Ruhe seiner Oberfläche, dennoch den ewigen Gesetzen der Bewegung nach wie vor gehorcht. Aber selbst an den Ufern sind die Wellen der Brandung so unbedeutend, treten sie so geräusch¬ los vorwärts und zurück, daß man kaum die Nähe des furchtbaren Elements erräth. Es gibt auch Leute genug, die'sich einbilden, daß es mit dem französischen Volke aus und am Ende sei. Aber wer diesen Glauben theilen und auf ihn bauen sollte, würde uoch oft genug Gelegenheit finden, sich zu enttäuschen. Frankreich ist seit 1830 in eine Bahn hineingerathen, die nicht zum Guten führt, auf der sich seine Kraft, wenn nicht sein guter Stern es dereinst wieder aus ihr hinauswirft, höchst wahrscheinlich vollkommen ab¬ nutzen wird. Aber noch ist diese Kraft stark genug, dem Volke selbst auf dieser Bahn die mächtigsten Anstrengungen zu erlauben. Die Sucht, rasch so reich als möglich zu werden, hat das ganze Volk ergriffen und zehrt an seinem gesunden Kern. Die Begeisterung für eine Idee, das ritterliche Wesen des ehemaligen Frankreichs schwindet immer mehr; aber die materielle Kraft der Nation ist nichts weniger als abgenutzt, ja wird durch den Geist, der sie jetzt beherrscht, eher vermehrt als vermindert. Wo die Interessen Frank¬ reichs es zum Kampfe auffordern werden, wird sich sehr bald zeigen, daß gegenwärtig die ganze prosaische und berechnende Kraft der Nation noch immer Wunder zu thun im Stande. Es ist vielfach in derselben Lage, in der England bereits seit einem Jahrhundert und länger ist. Auch hier fehlte der höhere beseelende Funke, auch von England sagen schon seit einem Jahr¬ hundert die Denker daß es im Verfalle begriffen, während es immer ) So uyter andern, Rousseau und Friedrich >l. Grknzbote». II. 1847.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_271898/57>, abgerufen am 05.05.2024.