Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

wieder mächtiger und größer aus jedem neuen Kampfe hervorging. Und
dennoch hatten die Denker Recht, und dennoch spinnt sich die innere Kraft
Englands seit länger als einem Jahrhundert eher ab als auf. Aber nur
Wenige bedenken, daß die Völker wie die Menschen, lange aufhören stärker
zu werden, wenn sie auch noch immer dicker werden. Rom war noch Jahr¬
hunderte die unbesiegbare Macht der Welt, als es bereits im Innern faulte.
Es ist zu fürchten, daß auch Frankreich nicht mehr stärker, vielleicht aber
noch viel größer werden wird, als es gegenwärtig ist.

Man wittert oft die innere Fäulniß hier, ohne daß man stets den Fin¬
ger ans den faulen Fleck legen kann. Sie sitzt aber tiefer, sie nagt am Kern
und läßt die Schaale unberührt. Diese glänzt noch immer wie in bessern
Zeiten. Das staatliche Leben hat seine äußere Strahlen so gut wie je, was
auch die Feinde der Regierung sagen mögen. Wer bezweifelt, daß Louis
Philipp seit fünfzehn Jahren fast in allen Lebensfragen der Völker ver¬
neinend oder bejahend den Ausschlag gab? Belgien wurde nach seinem
Plane geordnet; Polen wurde nach seinen Ansichten geopfert; Spanien nach
seinen Wünschen regiert, bis zuletzt die spanische Königskrone halbwegs zu
seinen Füßen liegt. In Italien, in der Schweiz gibt sein Einfluß deu
Ausschlag. England selbst lenkte seine Politik nach den Rathschlüssen der
Tuilerien.

Auch das geistige Leben Frankreichs hat noch immer seine glanzvolle
Seite. Vielleicht kein Land der Welt würde heute im Stande sein, eine
Schaar so strahlender Berühmtheiten aufzuzählen wie Frankreich. Georg
Sand, Lamartine, Eugen Sue, Victor Hugo, Scribe, Alexander Dumas,
und wie sie alle heißen, sind in der ganzen civilisirten Welt so bekannt, wie
in Paris, während die ersten Schriftsteller aller andern Nationen kaum bis
an die Grenze der Sprache, die sie reden, oft nicht bis über die des Kirch¬
spiels, in dem sie leben, dringen.

Dieser Glanz aber ist mehr im Aeußern als im Innern. In Frank¬
reich selbst sind alle diese vielberühmten Namen fast ohne jeden Einfluß.
Sie fahren wie Schiffe über einen Wasserspiegel hin, der nur eine Weile
in Schaum die Spur ihres Weges zeigt, um dann für immer zu verschwin¬
den. Man liest sie, man freut sich ihrer Gedankenspiele, ihrer geistigen
Feuerwerke, aber wie sie abgebrannt sind, tritt augenblicklich wieder das
frühere Dunkel ein. Die Seele des Volkes ist nicht mehr mit ihnen, sie
finden keine geistige Gleichstimmung mehr, die ihre Bilder aufnimmt und
bewahrt. Namen, die gestern noch in aller Welt Mund waren, find
heute wie verschollen, und grade die tüchtigsten unter dieser Schaar Tüchtiger


wieder mächtiger und größer aus jedem neuen Kampfe hervorging. Und
dennoch hatten die Denker Recht, und dennoch spinnt sich die innere Kraft
Englands seit länger als einem Jahrhundert eher ab als auf. Aber nur
Wenige bedenken, daß die Völker wie die Menschen, lange aufhören stärker
zu werden, wenn sie auch noch immer dicker werden. Rom war noch Jahr¬
hunderte die unbesiegbare Macht der Welt, als es bereits im Innern faulte.
Es ist zu fürchten, daß auch Frankreich nicht mehr stärker, vielleicht aber
noch viel größer werden wird, als es gegenwärtig ist.

Man wittert oft die innere Fäulniß hier, ohne daß man stets den Fin¬
ger ans den faulen Fleck legen kann. Sie sitzt aber tiefer, sie nagt am Kern
und läßt die Schaale unberührt. Diese glänzt noch immer wie in bessern
Zeiten. Das staatliche Leben hat seine äußere Strahlen so gut wie je, was
auch die Feinde der Regierung sagen mögen. Wer bezweifelt, daß Louis
Philipp seit fünfzehn Jahren fast in allen Lebensfragen der Völker ver¬
neinend oder bejahend den Ausschlag gab? Belgien wurde nach seinem
Plane geordnet; Polen wurde nach seinen Ansichten geopfert; Spanien nach
seinen Wünschen regiert, bis zuletzt die spanische Königskrone halbwegs zu
seinen Füßen liegt. In Italien, in der Schweiz gibt sein Einfluß deu
Ausschlag. England selbst lenkte seine Politik nach den Rathschlüssen der
Tuilerien.

Auch das geistige Leben Frankreichs hat noch immer seine glanzvolle
Seite. Vielleicht kein Land der Welt würde heute im Stande sein, eine
Schaar so strahlender Berühmtheiten aufzuzählen wie Frankreich. Georg
Sand, Lamartine, Eugen Sue, Victor Hugo, Scribe, Alexander Dumas,
und wie sie alle heißen, sind in der ganzen civilisirten Welt so bekannt, wie
in Paris, während die ersten Schriftsteller aller andern Nationen kaum bis
an die Grenze der Sprache, die sie reden, oft nicht bis über die des Kirch¬
spiels, in dem sie leben, dringen.

Dieser Glanz aber ist mehr im Aeußern als im Innern. In Frank¬
reich selbst sind alle diese vielberühmten Namen fast ohne jeden Einfluß.
Sie fahren wie Schiffe über einen Wasserspiegel hin, der nur eine Weile
in Schaum die Spur ihres Weges zeigt, um dann für immer zu verschwin¬
den. Man liest sie, man freut sich ihrer Gedankenspiele, ihrer geistigen
Feuerwerke, aber wie sie abgebrannt sind, tritt augenblicklich wieder das
frühere Dunkel ein. Die Seele des Volkes ist nicht mehr mit ihnen, sie
finden keine geistige Gleichstimmung mehr, die ihre Bilder aufnimmt und
bewahrt. Namen, die gestern noch in aller Welt Mund waren, find
heute wie verschollen, und grade die tüchtigsten unter dieser Schaar Tüchtiger


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0058" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/271957"/>
          <p xml:id="ID_192" prev="#ID_191"> wieder mächtiger und größer aus jedem neuen Kampfe hervorging. Und<lb/>
dennoch hatten die Denker Recht, und dennoch spinnt sich die innere Kraft<lb/>
Englands seit länger als einem Jahrhundert eher ab als auf. Aber nur<lb/>
Wenige bedenken, daß die Völker wie die Menschen, lange aufhören stärker<lb/>
zu werden, wenn sie auch noch immer dicker werden. Rom war noch Jahr¬<lb/>
hunderte die unbesiegbare Macht der Welt, als es bereits im Innern faulte.<lb/>
Es ist zu fürchten, daß auch Frankreich nicht mehr stärker, vielleicht aber<lb/>
noch viel größer werden wird, als es gegenwärtig ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_193"> Man wittert oft die innere Fäulniß hier, ohne daß man stets den Fin¬<lb/>
ger ans den faulen Fleck legen kann. Sie sitzt aber tiefer, sie nagt am Kern<lb/>
und läßt die Schaale unberührt. Diese glänzt noch immer wie in bessern<lb/>
Zeiten. Das staatliche Leben hat seine äußere Strahlen so gut wie je, was<lb/>
auch die Feinde der Regierung sagen mögen. Wer bezweifelt, daß Louis<lb/>
Philipp seit fünfzehn Jahren fast in allen Lebensfragen der Völker ver¬<lb/>
neinend oder bejahend den Ausschlag gab? Belgien wurde nach seinem<lb/>
Plane geordnet; Polen wurde nach seinen Ansichten geopfert; Spanien nach<lb/>
seinen Wünschen regiert, bis zuletzt die spanische Königskrone halbwegs zu<lb/>
seinen Füßen liegt. In Italien, in der Schweiz gibt sein Einfluß deu<lb/>
Ausschlag. England selbst lenkte seine Politik nach den Rathschlüssen der<lb/>
Tuilerien.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_194"> Auch das geistige Leben Frankreichs hat noch immer seine glanzvolle<lb/>
Seite. Vielleicht kein Land der Welt würde heute im Stande sein, eine<lb/>
Schaar so strahlender Berühmtheiten aufzuzählen wie Frankreich. Georg<lb/>
Sand, Lamartine, Eugen Sue, Victor Hugo, Scribe, Alexander Dumas,<lb/>
und wie sie alle heißen, sind in der ganzen civilisirten Welt so bekannt, wie<lb/>
in Paris, während die ersten Schriftsteller aller andern Nationen kaum bis<lb/>
an die Grenze der Sprache, die sie reden, oft nicht bis über die des Kirch¬<lb/>
spiels, in dem sie leben, dringen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_195" next="#ID_196"> Dieser Glanz aber ist mehr im Aeußern als im Innern. In Frank¬<lb/>
reich selbst sind alle diese vielberühmten Namen fast ohne jeden Einfluß.<lb/>
Sie fahren wie Schiffe über einen Wasserspiegel hin, der nur eine Weile<lb/>
in Schaum die Spur ihres Weges zeigt, um dann für immer zu verschwin¬<lb/>
den. Man liest sie, man freut sich ihrer Gedankenspiele, ihrer geistigen<lb/>
Feuerwerke, aber wie sie abgebrannt sind, tritt augenblicklich wieder das<lb/>
frühere Dunkel ein. Die Seele des Volkes ist nicht mehr mit ihnen, sie<lb/>
finden keine geistige Gleichstimmung mehr, die ihre Bilder aufnimmt und<lb/>
bewahrt. Namen, die gestern noch in aller Welt Mund waren, find<lb/>
heute wie verschollen, und grade die tüchtigsten unter dieser Schaar Tüchtiger</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0058] wieder mächtiger und größer aus jedem neuen Kampfe hervorging. Und dennoch hatten die Denker Recht, und dennoch spinnt sich die innere Kraft Englands seit länger als einem Jahrhundert eher ab als auf. Aber nur Wenige bedenken, daß die Völker wie die Menschen, lange aufhören stärker zu werden, wenn sie auch noch immer dicker werden. Rom war noch Jahr¬ hunderte die unbesiegbare Macht der Welt, als es bereits im Innern faulte. Es ist zu fürchten, daß auch Frankreich nicht mehr stärker, vielleicht aber noch viel größer werden wird, als es gegenwärtig ist. Man wittert oft die innere Fäulniß hier, ohne daß man stets den Fin¬ ger ans den faulen Fleck legen kann. Sie sitzt aber tiefer, sie nagt am Kern und läßt die Schaale unberührt. Diese glänzt noch immer wie in bessern Zeiten. Das staatliche Leben hat seine äußere Strahlen so gut wie je, was auch die Feinde der Regierung sagen mögen. Wer bezweifelt, daß Louis Philipp seit fünfzehn Jahren fast in allen Lebensfragen der Völker ver¬ neinend oder bejahend den Ausschlag gab? Belgien wurde nach seinem Plane geordnet; Polen wurde nach seinen Ansichten geopfert; Spanien nach seinen Wünschen regiert, bis zuletzt die spanische Königskrone halbwegs zu seinen Füßen liegt. In Italien, in der Schweiz gibt sein Einfluß deu Ausschlag. England selbst lenkte seine Politik nach den Rathschlüssen der Tuilerien. Auch das geistige Leben Frankreichs hat noch immer seine glanzvolle Seite. Vielleicht kein Land der Welt würde heute im Stande sein, eine Schaar so strahlender Berühmtheiten aufzuzählen wie Frankreich. Georg Sand, Lamartine, Eugen Sue, Victor Hugo, Scribe, Alexander Dumas, und wie sie alle heißen, sind in der ganzen civilisirten Welt so bekannt, wie in Paris, während die ersten Schriftsteller aller andern Nationen kaum bis an die Grenze der Sprache, die sie reden, oft nicht bis über die des Kirch¬ spiels, in dem sie leben, dringen. Dieser Glanz aber ist mehr im Aeußern als im Innern. In Frank¬ reich selbst sind alle diese vielberühmten Namen fast ohne jeden Einfluß. Sie fahren wie Schiffe über einen Wasserspiegel hin, der nur eine Weile in Schaum die Spur ihres Weges zeigt, um dann für immer zu verschwin¬ den. Man liest sie, man freut sich ihrer Gedankenspiele, ihrer geistigen Feuerwerke, aber wie sie abgebrannt sind, tritt augenblicklich wieder das frühere Dunkel ein. Die Seele des Volkes ist nicht mehr mit ihnen, sie finden keine geistige Gleichstimmung mehr, die ihre Bilder aufnimmt und bewahrt. Namen, die gestern noch in aller Welt Mund waren, find heute wie verschollen, und grade die tüchtigsten unter dieser Schaar Tüchtiger

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_271898
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_271898/58
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_271898/58>, abgerufen am 18.05.2024.