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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band.

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kennen. Werther, das Bild der reinen Subjectivität im Streben gegen die ge¬
gebenen Formen der Welt, geht unter, weil eben die bloße Subjectivität sich
nicht behaupten läßt; der Dichter dagegen überwindet die Einseitigkeit dieses
Strebens, indem er dem Gemüth nicht einen brutalen Sieg über das Konven¬
tionelle erringt, sondern indem er das eine an dem andern bildet. Vortrefflich
ist es dargestellt, wie in den titanischen Tendenzen, die sich auf den Glauben,
die Religion, das Absolute überhaupt bezogen, ebenso wie in dem Eingehen auf
historische, politische Erscheinungen, wie im Egmont, eine ähnliche Bildung der
ursprünglich unbändigen Subjectivität sich vermittelt.

Diese vollendete Bildung wird in den Schriften der zweiten Periode ob¬
jectiv. Das Herz resignirt, nicht weinerlich oder sentimental, sondern in freu¬
diger Hingebung an die Macht der Natur und der Sitte. Was Spinoza in dem
dialectischer Gewebe seiner Ethik, ich möchte sagen in einer gewissen Härte ent¬
wickelt, wird in den bunten Bildern der Dichtung zu einer heitern Harmonie.
Das Herz ist selig, denn es darf sein Leiden lieben; es darf sich genießen in
seiner Schranke, denn diese Schranke ist sein wahres Sein. Die Iphigenie --
ein Schauspiel, dessen sinnige Entwickelung dem Philosophen Ehre macht -- ist
das schönste Bild der vollendeten Resignation, der Tasso das bedeutendste Ge¬
mälde der Tendenz zur Entsagung. Sie ist in ihm noch auseinandergelegt;
die Gegensätze haben sich noch nicht in ihrer Ergänzung gefunden. Das Ver¬
hältniß Goethe's zu Schiller in dieser Periode hätte nach unserm Urtheil der
Verfasser mit größerer Aufmerksamkeit behandeln sollen.

Weniger können wir dem Kritiker folgen in dem, was er über die spätern
Schriften Goethe's sagt. Es ist löblich, bei einem verehrten Manne auch we¬
nigstens den Versuch zu machen, in seinen Tändeleien und Mystifikationen eine
Spur von Bedeutung zu finden, aber dies Streben ist selten belohnend. Die
Kritik des zweiten Theils von Faust ist verfehlt, weil überall Vernunft gesucht
wird, wo ein unbefangener Sinn nur das Stammeln eines weisen, aber alten
Mannes vernimmt.

Allen Verehrern deutscher Poesie sei dieser kritische Abriß als eine eben so
belehrende wie anmuthige Darstellung empfohlen ^. ^. .


III.

Aerzte und Bader. -- Die neuen Pächter der Wiener Zeitung. -- Litcrgrischc Anzeigen allen Zeit¬
schriften frei gegeben. -- Heinrich Moritz n"d die Wiener Thcatcrleitungcn. Die Wiener Jahr¬
bücher und ihre Redaction. -- Ccnstitc Chorherren. -- Heine'S Aremdenlistc.

In der mcdicinifthen Facultät erregte der Fall, daß ein Doctor der Medicin
mitten in der Stadt eine Officin, d. h. eine Barbierstube kaufte und ans der Tafel
über dem Gassenladcn sich mit vollem akademischen Titel nennt, eine unange¬
nehme Bewegung; wenn auch vom Rcchtsstandpunkte sich gegen das Verfahren ei¬
nes Mannes, der mehr durch Rasiren, als durch ärztliche Praxis sein Brot zu


kennen. Werther, das Bild der reinen Subjectivität im Streben gegen die ge¬
gebenen Formen der Welt, geht unter, weil eben die bloße Subjectivität sich
nicht behaupten läßt; der Dichter dagegen überwindet die Einseitigkeit dieses
Strebens, indem er dem Gemüth nicht einen brutalen Sieg über das Konven¬
tionelle erringt, sondern indem er das eine an dem andern bildet. Vortrefflich
ist es dargestellt, wie in den titanischen Tendenzen, die sich auf den Glauben,
die Religion, das Absolute überhaupt bezogen, ebenso wie in dem Eingehen auf
historische, politische Erscheinungen, wie im Egmont, eine ähnliche Bildung der
ursprünglich unbändigen Subjectivität sich vermittelt.

Diese vollendete Bildung wird in den Schriften der zweiten Periode ob¬
jectiv. Das Herz resignirt, nicht weinerlich oder sentimental, sondern in freu¬
diger Hingebung an die Macht der Natur und der Sitte. Was Spinoza in dem
dialectischer Gewebe seiner Ethik, ich möchte sagen in einer gewissen Härte ent¬
wickelt, wird in den bunten Bildern der Dichtung zu einer heitern Harmonie.
Das Herz ist selig, denn es darf sein Leiden lieben; es darf sich genießen in
seiner Schranke, denn diese Schranke ist sein wahres Sein. Die Iphigenie —
ein Schauspiel, dessen sinnige Entwickelung dem Philosophen Ehre macht — ist
das schönste Bild der vollendeten Resignation, der Tasso das bedeutendste Ge¬
mälde der Tendenz zur Entsagung. Sie ist in ihm noch auseinandergelegt;
die Gegensätze haben sich noch nicht in ihrer Ergänzung gefunden. Das Ver¬
hältniß Goethe's zu Schiller in dieser Periode hätte nach unserm Urtheil der
Verfasser mit größerer Aufmerksamkeit behandeln sollen.

Weniger können wir dem Kritiker folgen in dem, was er über die spätern
Schriften Goethe's sagt. Es ist löblich, bei einem verehrten Manne auch we¬
nigstens den Versuch zu machen, in seinen Tändeleien und Mystifikationen eine
Spur von Bedeutung zu finden, aber dies Streben ist selten belohnend. Die
Kritik des zweiten Theils von Faust ist verfehlt, weil überall Vernunft gesucht
wird, wo ein unbefangener Sinn nur das Stammeln eines weisen, aber alten
Mannes vernimmt.

Allen Verehrern deutscher Poesie sei dieser kritische Abriß als eine eben so
belehrende wie anmuthige Darstellung empfohlen ^. ^. .


III.

Aerzte und Bader. — Die neuen Pächter der Wiener Zeitung. — Litcrgrischc Anzeigen allen Zeit¬
schriften frei gegeben. — Heinrich Moritz n»d die Wiener Thcatcrleitungcn. Die Wiener Jahr¬
bücher und ihre Redaction. — Ccnstitc Chorherren. — Heine'S Aremdenlistc.

In der mcdicinifthen Facultät erregte der Fall, daß ein Doctor der Medicin
mitten in der Stadt eine Officin, d. h. eine Barbierstube kaufte und ans der Tafel
über dem Gassenladcn sich mit vollem akademischen Titel nennt, eine unange¬
nehme Bewegung; wenn auch vom Rcchtsstandpunkte sich gegen das Verfahren ei¬
nes Mannes, der mehr durch Rasiren, als durch ärztliche Praxis sein Brot zu


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_309659/302>, abgerufen am 07.05.2024.