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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band.

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Die Stimmung in Frankreich.



Mit dem lösten Willen ist es schwer, sich des Gedankens zu erwehren:
"Was muß das für eine Gesellschaft sein, in der alle Tage solche Zeichen
und Wunder geschehen?" Es ist keinem Zweifel unterworfen: das Alles sind
Ausnahmen, und uicht die Regel; Betrug, falsches Spiel, falscher
Eid -- und endlich Meuchelmord sind nicht das tägliche Leben der Mehr¬
zahl der Gesellschaft, aus der wir diese Verbrechen nun seit einer guten Weile
fast alle Tage hervorbrechen sehen. Aber dennoch kann mau nachgerade uicht
mehr umhin, diese ganze Gesellschaft mit zur Verantwortung zu ziehen. Die
Politische Gewissenlosigkeit ist die Ursache dieses Umsichgreifens der
gesellschaftlichen Gewissenlosigkeit, und wenn auch die unendliche
Mehrzahl der Gesellschaft, die heute in gewisser Beziehung als von der gan¬
zen civilisirten Welt in Anklagestand versetzt, erscheint, freigesprochen werden
muß gegenüber den Privatvcrbrechen, so fallt dennoch ein großer Theil
der Schuld auf sie, und zwar einfach deswegen, weil sie die politische Ge¬
wissenlosigkeit ans jede Weise, durch ihr Thun und Lassen, gefordert hat.

Die Duellisten, Beanvallon n. Comp., stehen vor Gericht, weil sie einen
falschen Eid geschworen haben; und mau kann innig überzeugt sein, daß es
wenige Leute in den Kreisen, denen die Angeklagten angehörten, gibt, die sie
nicht augenblicklich verurtheilen würden. Aber fragen Sie dann diese strengen
Richter: wie viel politische Eide sie geschworen und gebrochen haben? die
ersten und allerersten Namen der höchsten und allerhöchsten Gesellschaft wür¬
den mitleidig die Schultern, ob einer so "naiven" Frage, zucken. Als ob es
nicht ganz in der Natur der Sache läge, der Republik den Eid der Treue
zu schwören, und dann sich mit dem ersten Konsul gegen sie zu verschwören?
als ob es uicht etwas ganz einfaches und natürliches, dem Kaiser den Staub
vou den Füßen zu lecken,-- und ihn dann hinter dem Rücken zu verkaufen;
als ob eS sich nicht ganz von selbst verstände, Charles mit der ergebensten
Herzlichkeit zu huldigen, und dann im Geheimen die Grube zu graben, in
die er nothwendig hineinfallen muß. Es gibt Leute, die so viele Eide schwn-


Grcuzbvtc". IN. 1ni7. 47
Die Stimmung in Frankreich.



Mit dem lösten Willen ist es schwer, sich des Gedankens zu erwehren:
„Was muß das für eine Gesellschaft sein, in der alle Tage solche Zeichen
und Wunder geschehen?" Es ist keinem Zweifel unterworfen: das Alles sind
Ausnahmen, und uicht die Regel; Betrug, falsches Spiel, falscher
Eid — und endlich Meuchelmord sind nicht das tägliche Leben der Mehr¬
zahl der Gesellschaft, aus der wir diese Verbrechen nun seit einer guten Weile
fast alle Tage hervorbrechen sehen. Aber dennoch kann mau nachgerade uicht
mehr umhin, diese ganze Gesellschaft mit zur Verantwortung zu ziehen. Die
Politische Gewissenlosigkeit ist die Ursache dieses Umsichgreifens der
gesellschaftlichen Gewissenlosigkeit, und wenn auch die unendliche
Mehrzahl der Gesellschaft, die heute in gewisser Beziehung als von der gan¬
zen civilisirten Welt in Anklagestand versetzt, erscheint, freigesprochen werden
muß gegenüber den Privatvcrbrechen, so fallt dennoch ein großer Theil
der Schuld auf sie, und zwar einfach deswegen, weil sie die politische Ge¬
wissenlosigkeit ans jede Weise, durch ihr Thun und Lassen, gefordert hat.

Die Duellisten, Beanvallon n. Comp., stehen vor Gericht, weil sie einen
falschen Eid geschworen haben; und mau kann innig überzeugt sein, daß es
wenige Leute in den Kreisen, denen die Angeklagten angehörten, gibt, die sie
nicht augenblicklich verurtheilen würden. Aber fragen Sie dann diese strengen
Richter: wie viel politische Eide sie geschworen und gebrochen haben? die
ersten und allerersten Namen der höchsten und allerhöchsten Gesellschaft wür¬
den mitleidig die Schultern, ob einer so „naiven" Frage, zucken. Als ob es
nicht ganz in der Natur der Sache läge, der Republik den Eid der Treue
zu schwören, und dann sich mit dem ersten Konsul gegen sie zu verschwören?
als ob es uicht etwas ganz einfaches und natürliches, dem Kaiser den Staub
vou den Füßen zu lecken,— und ihn dann hinter dem Rücken zu verkaufen;
als ob eS sich nicht ganz von selbst verstände, Charles mit der ergebensten
Herzlichkeit zu huldigen, und dann im Geheimen die Grube zu graben, in
die er nothwendig hineinfallen muß. Es gibt Leute, die so viele Eide schwn-


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[0363] Die Stimmung in Frankreich. Mit dem lösten Willen ist es schwer, sich des Gedankens zu erwehren: „Was muß das für eine Gesellschaft sein, in der alle Tage solche Zeichen und Wunder geschehen?" Es ist keinem Zweifel unterworfen: das Alles sind Ausnahmen, und uicht die Regel; Betrug, falsches Spiel, falscher Eid — und endlich Meuchelmord sind nicht das tägliche Leben der Mehr¬ zahl der Gesellschaft, aus der wir diese Verbrechen nun seit einer guten Weile fast alle Tage hervorbrechen sehen. Aber dennoch kann mau nachgerade uicht mehr umhin, diese ganze Gesellschaft mit zur Verantwortung zu ziehen. Die Politische Gewissenlosigkeit ist die Ursache dieses Umsichgreifens der gesellschaftlichen Gewissenlosigkeit, und wenn auch die unendliche Mehrzahl der Gesellschaft, die heute in gewisser Beziehung als von der gan¬ zen civilisirten Welt in Anklagestand versetzt, erscheint, freigesprochen werden muß gegenüber den Privatvcrbrechen, so fallt dennoch ein großer Theil der Schuld auf sie, und zwar einfach deswegen, weil sie die politische Ge¬ wissenlosigkeit ans jede Weise, durch ihr Thun und Lassen, gefordert hat. Die Duellisten, Beanvallon n. Comp., stehen vor Gericht, weil sie einen falschen Eid geschworen haben; und mau kann innig überzeugt sein, daß es wenige Leute in den Kreisen, denen die Angeklagten angehörten, gibt, die sie nicht augenblicklich verurtheilen würden. Aber fragen Sie dann diese strengen Richter: wie viel politische Eide sie geschworen und gebrochen haben? die ersten und allerersten Namen der höchsten und allerhöchsten Gesellschaft wür¬ den mitleidig die Schultern, ob einer so „naiven" Frage, zucken. Als ob es nicht ganz in der Natur der Sache läge, der Republik den Eid der Treue zu schwören, und dann sich mit dem ersten Konsul gegen sie zu verschwören? als ob es uicht etwas ganz einfaches und natürliches, dem Kaiser den Staub vou den Füßen zu lecken,— und ihn dann hinter dem Rücken zu verkaufen; als ob eS sich nicht ganz von selbst verstände, Charles mit der ergebensten Herzlichkeit zu huldigen, und dann im Geheimen die Grube zu graben, in die er nothwendig hineinfallen muß. Es gibt Leute, die so viele Eide schwn- Grcuzbvtc». IN. 1ni7. 47

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_309659/363>, abgerufen am 07.05.2024.