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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, I. Semester. II. Band.

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Die Pariser Mai-Emeute.

Garn und Seide, oder die revolutionären und die gemäßigten Republikaner. -- Die Loterie des Natio¬
nal. -- Vlauqui'S Connerionen, -- Versammlung am it. Mai am Seincianal. -- Polnische Rechenkunst--
Schwanken der Ultras. -- Der Angriff auf die Assemblee nationale am Is. -- Comtais und die Spie߬
bürger. -- Apologie der Socialisten. -- Lagrange und Laussidiiire.

Um die Emeute vom 15. Mai richtig zu beurtheilen, muß man vor allen
Dingen im Ange. behalten, daß die jetzt zerspaltenen, republikanischen Kräfte zur
Zeit der Verschwörung und des Kampfes auf das Innigste mit einander verei¬
nigt waren. Ganz abgesehen von einzelnen Freundschaftsbündnissen und Liguen,
wäre die sogenannte gemäßigte Partei ohne die Fäuste der revolutionären nie'
an's Unter gekommen und letztere erkennt erstere daher von vornherein nicht als
Autorität an. Dazu kommt, daß selbst die zahmen, seit der Revolution mit der
obersten Gewalt bekleideten Republikaner, ans Furcht vor legitimistischen und über¬
haupt reactionären Intriguen, die rothen Corps der Rivolistraße und der Polizei-
präfectur nicht ungern sahen. So hat Marrast selbst die Bürgermeisterei von
Paris recht gern von der "republikanischen Garde" bewohnen lassen, so war So-
vrier selbst bei Lamartine und Caussidivre bei den Bürgern gern gesehen, ja man
erkannte die Verdienste des letztern und des Montagnardcorps um die Ordnung
der Stadt sogar öffentlich an. Die ultraradikale Partei konnte sich weder über
ihre Verdienste um die Revolution, noch über ihre Lage in der neuen Republik
täuschen. Zu ihren Verdiensten zählte sie die Kerkerhaft ihrer Häupter, die
Todten und Krüppel aus ihren Schaaren, das Gefühl der Kraft endlich für die
Republik, wie sie von ihnen verstanden wird, immer wieder zu streiten und,
wenn es sei" muß, zu sterben. Ihre Lage begriff sie so: das Regiment gehört
factisch nicht uns, sondern der gemäßigten Partei an. So lange sie selbst und
mit ihr die Staatsform, die allein ihre Geltung möglich machte, in Gefahr war,
lockerte man das alte Band, in welchem wir das Garn und sie die Seide waren,
nur behutsam ans, nach und nach haspelt der gehätschelte Blätterwurm sein Ge¬
spinnst von unserem Blonsenstosfe ab und überflügelt ihn als neuer aristokratischer
Falter. Die Wahlen sind gemäßigter ausgefallen als selbst die Gemäßigten er¬
wartet haben, bei der Ernennung der neuen Regierungscommission und des Mi¬
nisteriums hat man den Ultras gar keine, der radicalen Partei nur sehr schwache
Concessionen gemacht, wohingegen die Coterie des National fast systematisch mit


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Die Pariser Mai-Emeute.

Garn und Seide, oder die revolutionären und die gemäßigten Republikaner. — Die Loterie des Natio¬
nal. — Vlauqui'S Connerionen, — Versammlung am it. Mai am Seincianal. — Polnische Rechenkunst--
Schwanken der Ultras. — Der Angriff auf die Assemblee nationale am Is. — Comtais und die Spie߬
bürger. — Apologie der Socialisten. — Lagrange und Laussidiiire.

Um die Emeute vom 15. Mai richtig zu beurtheilen, muß man vor allen
Dingen im Ange. behalten, daß die jetzt zerspaltenen, republikanischen Kräfte zur
Zeit der Verschwörung und des Kampfes auf das Innigste mit einander verei¬
nigt waren. Ganz abgesehen von einzelnen Freundschaftsbündnissen und Liguen,
wäre die sogenannte gemäßigte Partei ohne die Fäuste der revolutionären nie'
an's Unter gekommen und letztere erkennt erstere daher von vornherein nicht als
Autorität an. Dazu kommt, daß selbst die zahmen, seit der Revolution mit der
obersten Gewalt bekleideten Republikaner, ans Furcht vor legitimistischen und über¬
haupt reactionären Intriguen, die rothen Corps der Rivolistraße und der Polizei-
präfectur nicht ungern sahen. So hat Marrast selbst die Bürgermeisterei von
Paris recht gern von der „republikanischen Garde" bewohnen lassen, so war So-
vrier selbst bei Lamartine und Caussidivre bei den Bürgern gern gesehen, ja man
erkannte die Verdienste des letztern und des Montagnardcorps um die Ordnung
der Stadt sogar öffentlich an. Die ultraradikale Partei konnte sich weder über
ihre Verdienste um die Revolution, noch über ihre Lage in der neuen Republik
täuschen. Zu ihren Verdiensten zählte sie die Kerkerhaft ihrer Häupter, die
Todten und Krüppel aus ihren Schaaren, das Gefühl der Kraft endlich für die
Republik, wie sie von ihnen verstanden wird, immer wieder zu streiten und,
wenn es sei» muß, zu sterben. Ihre Lage begriff sie so: das Regiment gehört
factisch nicht uns, sondern der gemäßigten Partei an. So lange sie selbst und
mit ihr die Staatsform, die allein ihre Geltung möglich machte, in Gefahr war,
lockerte man das alte Band, in welchem wir das Garn und sie die Seide waren,
nur behutsam ans, nach und nach haspelt der gehätschelte Blätterwurm sein Ge¬
spinnst von unserem Blonsenstosfe ab und überflügelt ihn als neuer aristokratischer
Falter. Die Wahlen sind gemäßigter ausgefallen als selbst die Gemäßigten er¬
wartet haben, bei der Ernennung der neuen Regierungscommission und des Mi¬
nisteriums hat man den Ultras gar keine, der radicalen Partei nur sehr schwache
Concessionen gemacht, wohingegen die Coterie des National fast systematisch mit


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[0339] Die Pariser Mai-Emeute. Garn und Seide, oder die revolutionären und die gemäßigten Republikaner. — Die Loterie des Natio¬ nal. — Vlauqui'S Connerionen, — Versammlung am it. Mai am Seincianal. — Polnische Rechenkunst-- Schwanken der Ultras. — Der Angriff auf die Assemblee nationale am Is. — Comtais und die Spie߬ bürger. — Apologie der Socialisten. — Lagrange und Laussidiiire. Um die Emeute vom 15. Mai richtig zu beurtheilen, muß man vor allen Dingen im Ange. behalten, daß die jetzt zerspaltenen, republikanischen Kräfte zur Zeit der Verschwörung und des Kampfes auf das Innigste mit einander verei¬ nigt waren. Ganz abgesehen von einzelnen Freundschaftsbündnissen und Liguen, wäre die sogenannte gemäßigte Partei ohne die Fäuste der revolutionären nie' an's Unter gekommen und letztere erkennt erstere daher von vornherein nicht als Autorität an. Dazu kommt, daß selbst die zahmen, seit der Revolution mit der obersten Gewalt bekleideten Republikaner, ans Furcht vor legitimistischen und über¬ haupt reactionären Intriguen, die rothen Corps der Rivolistraße und der Polizei- präfectur nicht ungern sahen. So hat Marrast selbst die Bürgermeisterei von Paris recht gern von der „republikanischen Garde" bewohnen lassen, so war So- vrier selbst bei Lamartine und Caussidivre bei den Bürgern gern gesehen, ja man erkannte die Verdienste des letztern und des Montagnardcorps um die Ordnung der Stadt sogar öffentlich an. Die ultraradikale Partei konnte sich weder über ihre Verdienste um die Revolution, noch über ihre Lage in der neuen Republik täuschen. Zu ihren Verdiensten zählte sie die Kerkerhaft ihrer Häupter, die Todten und Krüppel aus ihren Schaaren, das Gefühl der Kraft endlich für die Republik, wie sie von ihnen verstanden wird, immer wieder zu streiten und, wenn es sei» muß, zu sterben. Ihre Lage begriff sie so: das Regiment gehört factisch nicht uns, sondern der gemäßigten Partei an. So lange sie selbst und mit ihr die Staatsform, die allein ihre Geltung möglich machte, in Gefahr war, lockerte man das alte Band, in welchem wir das Garn und sie die Seide waren, nur behutsam ans, nach und nach haspelt der gehätschelte Blätterwurm sein Ge¬ spinnst von unserem Blonsenstosfe ab und überflügelt ihn als neuer aristokratischer Falter. Die Wahlen sind gemäßigter ausgefallen als selbst die Gemäßigten er¬ wartet haben, bei der Ernennung der neuen Regierungscommission und des Mi¬ nisteriums hat man den Ultras gar keine, der radicalen Partei nur sehr schwache Concessionen gemacht, wohingegen die Coterie des National fast systematisch mit Grenzboten. II. l»«»- 43

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_276205/339>, abgerufen am 06.05.2024.