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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, I. Semester. II. Band.

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Gedanken über das Volk.
von Emma Niendorf. Nach Daniel Stern

Hin<"' mi moss", vllo in! f" p!>^I>->ro.
v "n Jo.

Man hat in der neuesten Zeit viel über und für das Volk geschrieben. Das
ist nicht blos Zufall. In allen wichtigen Epochen der Civilisation lag für die
Denker und Dichter ein gegebener und gleichsam von einer unsichtbaren Weisheit
gebotener Stoff vor. Götter, Könige, Vornehme, Alles was die Einbildungskraft
beherrschte, diente bis auf unsere Tage der Kunst gewöhnlich zum Gegenstande.
Die Romauceros und die Nibelungen singen nur Thaten der Fürsten und Liebes¬
abenteuer der Ritter. Ein einziges Gedicht der Vergangenheit macht eine Aus¬
nahme, indem es dem Volke die Hauptrolle ertheilt; dies Gedicht ist das Evan¬
gelium. Jetzt gehorchen Alle, ohne es zu wisse", dem geheimen Antrieb des mo¬
dernen Genius. Alle, ohne zu verstehe" warum, vertauschen nach und nach in
ihrer Schöpfung die Götter, die Könige, die Vornehmen- mit dem Volke, weil
nach den ewigen Rachschlüssen die Einsetzung des Volkes das Werk des 19. Jahr¬
hunderts sein soll. ,

Es war also ein ganz richtiger Instinkt, der viele Talente der Gegenwart-
bewogen hat, neue Eingebungen an den verborgenen Quellen des Volkslebens zu
holen. Die energischen Leidenschaften des Volkes, die offenherzige Rauhheit in
seiner Liebe und seinem Hasse, seinen Freuden und seinen Schmerzen, zeichnen sich
in kühnen Strichen, in greifbaren Gegensätzen, in scharfen Lichtern und Schatten,
die sich auf merkwürdige Art zur Plastik eignen und umsonst in den gemischten
Empfindungen der höhern Klassen gesucht würden. Ich sehe die Möglichkeit eines
großen Werkes, dessen Held das Volk wäre. Es müßte einem Manne von Genie
leicht sein, in diesen mächtigen, noch so wenig gekannten Massen die Elemente für
ein modernes Epos zu entdecken.




Es ist nicht die Schönheit der Diction, noch weniger Fülle und Glätte, die
einigen an das Volk gerichteten Werken mangeln, es ist ein gewisser Accent der-
Seele, den es allein empfindet. Gleich jener Verkäuferin des Theophrast erkennt


Gedanken über das Volk.
von Emma Niendorf. Nach Daniel Stern

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v »n Jo.

Man hat in der neuesten Zeit viel über und für das Volk geschrieben. Das
ist nicht blos Zufall. In allen wichtigen Epochen der Civilisation lag für die
Denker und Dichter ein gegebener und gleichsam von einer unsichtbaren Weisheit
gebotener Stoff vor. Götter, Könige, Vornehme, Alles was die Einbildungskraft
beherrschte, diente bis auf unsere Tage der Kunst gewöhnlich zum Gegenstande.
Die Romauceros und die Nibelungen singen nur Thaten der Fürsten und Liebes¬
abenteuer der Ritter. Ein einziges Gedicht der Vergangenheit macht eine Aus¬
nahme, indem es dem Volke die Hauptrolle ertheilt; dies Gedicht ist das Evan¬
gelium. Jetzt gehorchen Alle, ohne es zu wisse», dem geheimen Antrieb des mo¬
dernen Genius. Alle, ohne zu verstehe» warum, vertauschen nach und nach in
ihrer Schöpfung die Götter, die Könige, die Vornehmen- mit dem Volke, weil
nach den ewigen Rachschlüssen die Einsetzung des Volkes das Werk des 19. Jahr¬
hunderts sein soll. ,

Es war also ein ganz richtiger Instinkt, der viele Talente der Gegenwart-
bewogen hat, neue Eingebungen an den verborgenen Quellen des Volkslebens zu
holen. Die energischen Leidenschaften des Volkes, die offenherzige Rauhheit in
seiner Liebe und seinem Hasse, seinen Freuden und seinen Schmerzen, zeichnen sich
in kühnen Strichen, in greifbaren Gegensätzen, in scharfen Lichtern und Schatten,
die sich auf merkwürdige Art zur Plastik eignen und umsonst in den gemischten
Empfindungen der höhern Klassen gesucht würden. Ich sehe die Möglichkeit eines
großen Werkes, dessen Held das Volk wäre. Es müßte einem Manne von Genie
leicht sein, in diesen mächtigen, noch so wenig gekannten Massen die Elemente für
ein modernes Epos zu entdecken.




Es ist nicht die Schönheit der Diction, noch weniger Fülle und Glätte, die
einigen an das Volk gerichteten Werken mangeln, es ist ein gewisser Accent der-
Seele, den es allein empfindet. Gleich jener Verkäuferin des Theophrast erkennt


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[0510] Gedanken über das Volk. von Emma Niendorf. Nach Daniel Stern Hin<»' mi moss«, vllo in! f» p!>^I>->ro. v »n Jo. Man hat in der neuesten Zeit viel über und für das Volk geschrieben. Das ist nicht blos Zufall. In allen wichtigen Epochen der Civilisation lag für die Denker und Dichter ein gegebener und gleichsam von einer unsichtbaren Weisheit gebotener Stoff vor. Götter, Könige, Vornehme, Alles was die Einbildungskraft beherrschte, diente bis auf unsere Tage der Kunst gewöhnlich zum Gegenstande. Die Romauceros und die Nibelungen singen nur Thaten der Fürsten und Liebes¬ abenteuer der Ritter. Ein einziges Gedicht der Vergangenheit macht eine Aus¬ nahme, indem es dem Volke die Hauptrolle ertheilt; dies Gedicht ist das Evan¬ gelium. Jetzt gehorchen Alle, ohne es zu wisse», dem geheimen Antrieb des mo¬ dernen Genius. Alle, ohne zu verstehe» warum, vertauschen nach und nach in ihrer Schöpfung die Götter, die Könige, die Vornehmen- mit dem Volke, weil nach den ewigen Rachschlüssen die Einsetzung des Volkes das Werk des 19. Jahr¬ hunderts sein soll. , Es war also ein ganz richtiger Instinkt, der viele Talente der Gegenwart- bewogen hat, neue Eingebungen an den verborgenen Quellen des Volkslebens zu holen. Die energischen Leidenschaften des Volkes, die offenherzige Rauhheit in seiner Liebe und seinem Hasse, seinen Freuden und seinen Schmerzen, zeichnen sich in kühnen Strichen, in greifbaren Gegensätzen, in scharfen Lichtern und Schatten, die sich auf merkwürdige Art zur Plastik eignen und umsonst in den gemischten Empfindungen der höhern Klassen gesucht würden. Ich sehe die Möglichkeit eines großen Werkes, dessen Held das Volk wäre. Es müßte einem Manne von Genie leicht sein, in diesen mächtigen, noch so wenig gekannten Massen die Elemente für ein modernes Epos zu entdecken. Es ist nicht die Schönheit der Diction, noch weniger Fülle und Glätte, die einigen an das Volk gerichteten Werken mangeln, es ist ein gewisser Accent der- Seele, den es allein empfindet. Gleich jener Verkäuferin des Theophrast erkennt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_276205/510>, abgerufen am 06.05.2024.