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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, I. Semester. II. Band.

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eS den Fremden an, ich weiß nicht, welchem unaussprechlichen Etwas, das fehlt
und dessen rührende Beredsamkeit ihm durch nichts ersetzt werden kann.




Das was dem Menschen eine tiefe und wahrhaft schmerzliche Erschütterung
bereitet, ist nicht der Anblick von Macht und Schätzen, die er nicht erlangen darf.
Bewunderung und GehorsamMnd Attribute seiner Natur, die ihn nicht demüthi¬
gen und ihm nicht schwer werden; sondern es ist vielmehr der Mißlaut zwischen
seinem Geiste und seinem Schicksale, es ist die sich ihm so oft aufdringende Un¬
möglichkeit, für sein und seines Nächsten Wohl die ihm von der Natur geschenkten
Kräfte wirken zu lassen. So wie man die Gesellschaft eingerichtet hat, ist diese
Möglichkeit, zur völligen Ausübung seiner Fähigkeiten zu gelangen, für Niemand
gesichert; denn wenn die untern Klassen weit mehr als die andern durch Elend
bedrückt sind, lassen sich die reichen Klassen von solcher Verblendung leiten, daß
die meisten natürlichen Berufungen keinen Aufschwung in einer Sphäre gewinnen,
wo ihnen doch scheinbar Alles günstig sein müßte. Unsere Erziehnngssysteme
zwängen die Kinder; unsere Gewohnheiten zwängen die Frauen; unsere Borur--
theile zwängen die Männer. Alle, statt uns den großen von der Vorsehung ver¬
hängten Nothwendigkeiten zu bequemen, machen wir uns zu Knechten von tausend
willkürliche", frivolen und widersprechenden Nothwendigkeiten und gelangen so,
"hre es zu ahne", z" einer jammernswürdigen Gleichheit.




Wie anders wäre es, wenn wir, ohne nach einer chimärischen Gleichheit zu
jagen, unter uns das Reich der Gerechtigkeit zu gründen wüßten; der Gerechtig?
keit, die Jedem Wissen, Arbeit und öffentlichen Reichthum nicht in gleichem, aber
in genügendem, nach dem Bedürfnisse gewogenem Antheile zuerkennte! Ohne diesen
unumgänglichen Bezug zwischen dem innern und dem äußern Leben, der einst, ich
bin es überzeugt, ans dem vereinten Streben der Nationalerziehung und der po¬
litischen Oeconomie entstehen muß, werden all' unsere angeblichen Gleichheitsrefor¬
men nur Angeln sein, unsere republikanischsten Einrichtungen noch die Erwartung
durch unerfüllbare Versprechen von übermenschlicher Glückseligkeit täuschen.




Sind die wirklich von Wahnsinn befallen, die sich eine Gesellschaft nicht nur
möglich, sondern sogar nothwendig denken, welche dem Arbeiter jene Sicherheit
und Gesundheitspflege verbürgte, ohne die das Dasein nur ein langes fruchtloses
Märtyrerthum ist, wo die Qual des Einen Tages das Elend des Andern voraus¬
sieht, ohne es bannen zu könne"? Sind die wahnsinnig, welche heischen, daß eine
Nation, wie die französische, für das Alter und die Gebrechen ihrer industriellen
Heere ehrenvolle Zufluchtstätten nach dem Vorbilde jenes majestätischen Asyls
gründe, das ein Wink des "großen" Königs einst seinen invaliden Kriegern öff¬
nete? Wäre die von so vielen Gutgesinnten gewünschte Erziehungsmethode nnan-


Gr"nzl>"Ku. II.

eS den Fremden an, ich weiß nicht, welchem unaussprechlichen Etwas, das fehlt
und dessen rührende Beredsamkeit ihm durch nichts ersetzt werden kann.




Das was dem Menschen eine tiefe und wahrhaft schmerzliche Erschütterung
bereitet, ist nicht der Anblick von Macht und Schätzen, die er nicht erlangen darf.
Bewunderung und GehorsamMnd Attribute seiner Natur, die ihn nicht demüthi¬
gen und ihm nicht schwer werden; sondern es ist vielmehr der Mißlaut zwischen
seinem Geiste und seinem Schicksale, es ist die sich ihm so oft aufdringende Un¬
möglichkeit, für sein und seines Nächsten Wohl die ihm von der Natur geschenkten
Kräfte wirken zu lassen. So wie man die Gesellschaft eingerichtet hat, ist diese
Möglichkeit, zur völligen Ausübung seiner Fähigkeiten zu gelangen, für Niemand
gesichert; denn wenn die untern Klassen weit mehr als die andern durch Elend
bedrückt sind, lassen sich die reichen Klassen von solcher Verblendung leiten, daß
die meisten natürlichen Berufungen keinen Aufschwung in einer Sphäre gewinnen,
wo ihnen doch scheinbar Alles günstig sein müßte. Unsere Erziehnngssysteme
zwängen die Kinder; unsere Gewohnheiten zwängen die Frauen; unsere Borur--
theile zwängen die Männer. Alle, statt uns den großen von der Vorsehung ver¬
hängten Nothwendigkeiten zu bequemen, machen wir uns zu Knechten von tausend
willkürliche», frivolen und widersprechenden Nothwendigkeiten und gelangen so,
»hre es zu ahne», z» einer jammernswürdigen Gleichheit.




Wie anders wäre es, wenn wir, ohne nach einer chimärischen Gleichheit zu
jagen, unter uns das Reich der Gerechtigkeit zu gründen wüßten; der Gerechtig?
keit, die Jedem Wissen, Arbeit und öffentlichen Reichthum nicht in gleichem, aber
in genügendem, nach dem Bedürfnisse gewogenem Antheile zuerkennte! Ohne diesen
unumgänglichen Bezug zwischen dem innern und dem äußern Leben, der einst, ich
bin es überzeugt, ans dem vereinten Streben der Nationalerziehung und der po¬
litischen Oeconomie entstehen muß, werden all' unsere angeblichen Gleichheitsrefor¬
men nur Angeln sein, unsere republikanischsten Einrichtungen noch die Erwartung
durch unerfüllbare Versprechen von übermenschlicher Glückseligkeit täuschen.




Sind die wirklich von Wahnsinn befallen, die sich eine Gesellschaft nicht nur
möglich, sondern sogar nothwendig denken, welche dem Arbeiter jene Sicherheit
und Gesundheitspflege verbürgte, ohne die das Dasein nur ein langes fruchtloses
Märtyrerthum ist, wo die Qual des Einen Tages das Elend des Andern voraus¬
sieht, ohne es bannen zu könne»? Sind die wahnsinnig, welche heischen, daß eine
Nation, wie die französische, für das Alter und die Gebrechen ihrer industriellen
Heere ehrenvolle Zufluchtstätten nach dem Vorbilde jenes majestätischen Asyls
gründe, das ein Wink des „großen" Königs einst seinen invaliden Kriegern öff¬
nete? Wäre die von so vielen Gutgesinnten gewünschte Erziehungsmethode nnan-


Gr«nzl>»Ku. II.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_276205/511>, abgerufen am 26.05.2024.