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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, I. Semester. II. Band.

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Der politische Fortschritt in Oestreich
seit der Revolution vom 13. März.



"Die Welt ist heute überall in Wahnsinn verfallen, verschmäht ihre alten
Gesetze und strebt nach eingebildeten Konstitutionen."

Diese Worte rief der hochselige Kaiser Franz den ungarischen Magnaten im
Jahre 1820 zu, als dieselben um eine Verbesserung ihrer Rechtszustände baten.

Und in diesen Wahnsinn ist nun die ganze östreichische Monarchie verfallen
und alle einzelnen Provinzen verschmähen ihre alten Gesetze und streben nach ein¬
gebildeten Konstitutionen!

Der gute Kaiser Franz, konnte er ahnen, daß sich auf Geheiß seines Sohnes
die östreichische Bastille, der Spielberg öffnen werde, um jene politischen Gefan¬
genen frei zu geben, welche die alte Monarchie mit väterlicher Fürsorge in dum¬
pfen Kerkern vom "Wahnsinn" zu heilen trachtete?!

Die guten alten Gesetze, durch welche bisher das Unterthanenverhältniß und
das Ansehen der Regierung aufrecht erhalten wurde, werden nicht mehr revidirt,
gesammelt, in Hofkommisstonen jahrelang vorberathen, vom Staatsrathe in Erwä¬
gung gezogen, einem kaiserlichen Prinzen unterbreitet und schließlich wegen Anhäu¬
fung der Geschäfte in der geheimen Konferenz -- bei Seite gelegt. Nein, man
verschmäht sie ganz entschieden, die alten Gesetze, und ein Ausschuß von Ständen
und Bürgern berathet selbstständig neue Gesetzentwürfe über Munizipalfreiheit, öffent¬
liches Gerichtswesen, über die Unterrichtsanstalten und die Gewerbe-und Industrie-
Verhältnisse.

Ja, in einzelnen Provinzen ist factisch die Regierungsgewalt aufgelöst und
die k. k. Gubernien suchen bei den Bürgern Rath und Hülfe. In Grätz bittet
der Gouverneur einen jungen Mann, der weder "angestellt," noch von "ange¬
sehener Familie" ist, um seinen Beistand. In Prag wählten die Bürger nach
dem freisinnigsten Wahlmodus den Bürgermeister, und der Ausschuß berathet und
decretirt über das Wohl des ganzen Landes. Die ganze bestehende Ordnung der
Dinge ist außerhalb den Wänden der Canzleien umgekehrt.

Böhmen, Galizien, die Slavonier und Kroaten "streben nach eingebildeten
Konstitutionen." Und die Wiener selbst sind auf die versprochene Konstitution,


Grenzboten. II. Is"". 12
Der politische Fortschritt in Oestreich
seit der Revolution vom 13. März.



„Die Welt ist heute überall in Wahnsinn verfallen, verschmäht ihre alten
Gesetze und strebt nach eingebildeten Konstitutionen."

Diese Worte rief der hochselige Kaiser Franz den ungarischen Magnaten im
Jahre 1820 zu, als dieselben um eine Verbesserung ihrer Rechtszustände baten.

Und in diesen Wahnsinn ist nun die ganze östreichische Monarchie verfallen
und alle einzelnen Provinzen verschmähen ihre alten Gesetze und streben nach ein¬
gebildeten Konstitutionen!

Der gute Kaiser Franz, konnte er ahnen, daß sich auf Geheiß seines Sohnes
die östreichische Bastille, der Spielberg öffnen werde, um jene politischen Gefan¬
genen frei zu geben, welche die alte Monarchie mit väterlicher Fürsorge in dum¬
pfen Kerkern vom „Wahnsinn" zu heilen trachtete?!

Die guten alten Gesetze, durch welche bisher das Unterthanenverhältniß und
das Ansehen der Regierung aufrecht erhalten wurde, werden nicht mehr revidirt,
gesammelt, in Hofkommisstonen jahrelang vorberathen, vom Staatsrathe in Erwä¬
gung gezogen, einem kaiserlichen Prinzen unterbreitet und schließlich wegen Anhäu¬
fung der Geschäfte in der geheimen Konferenz — bei Seite gelegt. Nein, man
verschmäht sie ganz entschieden, die alten Gesetze, und ein Ausschuß von Ständen
und Bürgern berathet selbstständig neue Gesetzentwürfe über Munizipalfreiheit, öffent¬
liches Gerichtswesen, über die Unterrichtsanstalten und die Gewerbe-und Industrie-
Verhältnisse.

Ja, in einzelnen Provinzen ist factisch die Regierungsgewalt aufgelöst und
die k. k. Gubernien suchen bei den Bürgern Rath und Hülfe. In Grätz bittet
der Gouverneur einen jungen Mann, der weder „angestellt," noch von „ange¬
sehener Familie" ist, um seinen Beistand. In Prag wählten die Bürger nach
dem freisinnigsten Wahlmodus den Bürgermeister, und der Ausschuß berathet und
decretirt über das Wohl des ganzen Landes. Die ganze bestehende Ordnung der
Dinge ist außerhalb den Wänden der Canzleien umgekehrt.

Böhmen, Galizien, die Slavonier und Kroaten „streben nach eingebildeten
Konstitutionen." Und die Wiener selbst sind auf die versprochene Konstitution,


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[0099] Der politische Fortschritt in Oestreich seit der Revolution vom 13. März. „Die Welt ist heute überall in Wahnsinn verfallen, verschmäht ihre alten Gesetze und strebt nach eingebildeten Konstitutionen." Diese Worte rief der hochselige Kaiser Franz den ungarischen Magnaten im Jahre 1820 zu, als dieselben um eine Verbesserung ihrer Rechtszustände baten. Und in diesen Wahnsinn ist nun die ganze östreichische Monarchie verfallen und alle einzelnen Provinzen verschmähen ihre alten Gesetze und streben nach ein¬ gebildeten Konstitutionen! Der gute Kaiser Franz, konnte er ahnen, daß sich auf Geheiß seines Sohnes die östreichische Bastille, der Spielberg öffnen werde, um jene politischen Gefan¬ genen frei zu geben, welche die alte Monarchie mit väterlicher Fürsorge in dum¬ pfen Kerkern vom „Wahnsinn" zu heilen trachtete?! Die guten alten Gesetze, durch welche bisher das Unterthanenverhältniß und das Ansehen der Regierung aufrecht erhalten wurde, werden nicht mehr revidirt, gesammelt, in Hofkommisstonen jahrelang vorberathen, vom Staatsrathe in Erwä¬ gung gezogen, einem kaiserlichen Prinzen unterbreitet und schließlich wegen Anhäu¬ fung der Geschäfte in der geheimen Konferenz — bei Seite gelegt. Nein, man verschmäht sie ganz entschieden, die alten Gesetze, und ein Ausschuß von Ständen und Bürgern berathet selbstständig neue Gesetzentwürfe über Munizipalfreiheit, öffent¬ liches Gerichtswesen, über die Unterrichtsanstalten und die Gewerbe-und Industrie- Verhältnisse. Ja, in einzelnen Provinzen ist factisch die Regierungsgewalt aufgelöst und die k. k. Gubernien suchen bei den Bürgern Rath und Hülfe. In Grätz bittet der Gouverneur einen jungen Mann, der weder „angestellt," noch von „ange¬ sehener Familie" ist, um seinen Beistand. In Prag wählten die Bürger nach dem freisinnigsten Wahlmodus den Bürgermeister, und der Ausschuß berathet und decretirt über das Wohl des ganzen Landes. Die ganze bestehende Ordnung der Dinge ist außerhalb den Wänden der Canzleien umgekehrt. Böhmen, Galizien, die Slavonier und Kroaten „streben nach eingebildeten Konstitutionen." Und die Wiener selbst sind auf die versprochene Konstitution, Grenzboten. II. Is«». 12

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_276205/99>, abgerufen am 06.05.2024.