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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. IV. Band.

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oder weniger Besitz, dann konnten Diäten und Reisegelder festgesetzt werden, denn
in der Classe der wahlfähigen Bürger lag alsdann für den Staat und für die
Gemeinden eine naturgemäße, hinreichende Garantie für eine gerechte Entschei¬
dung über Giltigkeit oder Ungiltigkeit einer von der Regierungsbehörde beliebten
Maßregel.

Wir haben somit die wesentlichen Vorzüge des hessischen Bezirksraths, sowie
seine Mängel dargelegt. Wenn wir die Ursache der letzteren in der Vernachläs¬
sigung der mehrfach ausgesprochenen Grundsätze jenes Entwurfs für freie Gemein¬
deorganisation fanden, so würde es uns freuen, wenn eS uns gelungen wäre, in
des Verfassers Geist und Sinn durch ein specielles Beispiel seine Ideen zu kom-
M. V. mentiren und sie in ihrer Wahrheit nachzuweisen.




Der Thttrmbmt zu Babel"



Eine politisch aufgeregte Zeit ist wenigstens für deu Augenblick der Kunst
nicht günstig. Sie absorbirt deu Idealismus der besten Kräfte nach Einer Rich¬
tung hin und läßt die eigentlich freie, nach allen Seiten hin ausgebildete Jndivi-
dualitar nicht zu ihrem Recht kommen. Die gesammte Kunst, soweit sie sich nicht
dazu hergibt, den ephemeren Anforderungen des Tages einen Ausdruck zu geben,
gilt als Reaction, denn sie zieht den Sinn von dem Einen ab, was Noth thut. Es
ist ein gutes Zeichen für die ursprüngliche Gesundheit unserer Natur, daß Kaul-
bach's Gemälde von der Unterbrechung des babylonischen Thurmbaues noch
Interesse erregte, obgleich es keine Barrikade vorstellt. Vielleicht hat der beschämte
Tyrann im Mittelpunkt desselben seinen Antheil an diesem Interesse.

Der erste Anblick des Cartons überzeugt uns, daß wir es mit einem der
edelsten Werke der Kunst zu thun haben. Eine Reihe schöner, bedeutender Figuren
bewegt sich in freier, genialer Lebendigkeit durcheinander, und doch gibt uns die
Größe der Gruppirung sogleich einen Totaleindruck. Der Reichthum freier Indi¬
vidualitäten und charakteristischer Typen trägt doch überall den Stempel des Ideals.
Ohne mechanischen Zwang hat jeder Theil des Gemäldes seine bestimmte, klar
ausgedrückte Beziehung zum Ganzen. In der wuchernden Fülle sinnlich heiterer
Natur spricht überall vernehmlich die Freiheit des Geistes.

Nach dem Vergnügen der ersten Anschauung suchen wir nach der eigentlichen
Bedeutung. Der Gegenstand ist die Mythe des alten Testaments von dem König,
der als Zeichen seiner Macht und im Trotz gegen die Gottheit einen Thurm auf¬
richtete, der bis in den Himmel aussteigen sollte. Jehovah hintertrieb dies Begir-


oder weniger Besitz, dann konnten Diäten und Reisegelder festgesetzt werden, denn
in der Classe der wahlfähigen Bürger lag alsdann für den Staat und für die
Gemeinden eine naturgemäße, hinreichende Garantie für eine gerechte Entschei¬
dung über Giltigkeit oder Ungiltigkeit einer von der Regierungsbehörde beliebten
Maßregel.

Wir haben somit die wesentlichen Vorzüge des hessischen Bezirksraths, sowie
seine Mängel dargelegt. Wenn wir die Ursache der letzteren in der Vernachläs¬
sigung der mehrfach ausgesprochenen Grundsätze jenes Entwurfs für freie Gemein¬
deorganisation fanden, so würde es uns freuen, wenn eS uns gelungen wäre, in
des Verfassers Geist und Sinn durch ein specielles Beispiel seine Ideen zu kom-
M. V. mentiren und sie in ihrer Wahrheit nachzuweisen.




Der Thttrmbmt zu Babel»



Eine politisch aufgeregte Zeit ist wenigstens für deu Augenblick der Kunst
nicht günstig. Sie absorbirt deu Idealismus der besten Kräfte nach Einer Rich¬
tung hin und läßt die eigentlich freie, nach allen Seiten hin ausgebildete Jndivi-
dualitar nicht zu ihrem Recht kommen. Die gesammte Kunst, soweit sie sich nicht
dazu hergibt, den ephemeren Anforderungen des Tages einen Ausdruck zu geben,
gilt als Reaction, denn sie zieht den Sinn von dem Einen ab, was Noth thut. Es
ist ein gutes Zeichen für die ursprüngliche Gesundheit unserer Natur, daß Kaul-
bach's Gemälde von der Unterbrechung des babylonischen Thurmbaues noch
Interesse erregte, obgleich es keine Barrikade vorstellt. Vielleicht hat der beschämte
Tyrann im Mittelpunkt desselben seinen Antheil an diesem Interesse.

Der erste Anblick des Cartons überzeugt uns, daß wir es mit einem der
edelsten Werke der Kunst zu thun haben. Eine Reihe schöner, bedeutender Figuren
bewegt sich in freier, genialer Lebendigkeit durcheinander, und doch gibt uns die
Größe der Gruppirung sogleich einen Totaleindruck. Der Reichthum freier Indi¬
vidualitäten und charakteristischer Typen trägt doch überall den Stempel des Ideals.
Ohne mechanischen Zwang hat jeder Theil des Gemäldes seine bestimmte, klar
ausgedrückte Beziehung zum Ganzen. In der wuchernden Fülle sinnlich heiterer
Natur spricht überall vernehmlich die Freiheit des Geistes.

Nach dem Vergnügen der ersten Anschauung suchen wir nach der eigentlichen
Bedeutung. Der Gegenstand ist die Mythe des alten Testaments von dem König,
der als Zeichen seiner Macht und im Trotz gegen die Gottheit einen Thurm auf¬
richtete, der bis in den Himmel aussteigen sollte. Jehovah hintertrieb dies Begir-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_276755/306>, abgerufen am 18.05.2024.