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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

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Das Mysterium des Christenthums*).



Die großen Erschütterungen des Jahres 48 haben die philosophischen Ten¬
denzen, die vor dem März die Bewegung zu leiten schienen, in den Hintergrund
gedrängt. Auch die Schule Hegel's ist vollständig zersprengt worden. Von den
Notabilitäten der Schule haben nur Wenige an den letzten .Kämpfen einen directen
Antheil genommen, und diese -- so Rüge, Bischer, Michelet -- meist im Sinne
deö extremen Radicalismus. Nur David Strauß hat auch diese Feuerprobe
überstanden.

Da wir in diesem Augenblick in der Lage sind, so viele vormärzliche Dinge
wiederkehren zu sehn, deren fernere Existenz man allgemein für unmöglich gehalten
hätte, so liegt es nahe, daß auch die Philosophie ihre alten Bestrebungen wieder
aufnimmt. Zunächst in Beziehung auf die Religion.

Der Verfasser der vorliegenden Schrift "hegt seit Jahren die Ueberzeugung,
daß die Religionsphilosophie ... vor Allem auch wieder zur Ap o lo g e til werden
müsse, um die Lebensfähigkeit des Christenthums auch für die Zukunft ... wissen¬
schaftlich zu erweisen." -- Die ewige Grundidee des Evangeliums wird folgender¬
maßen construirt.

"Nicht in dem vermeintlichen Gegensatze zwischen Himmel und Erde, der ja
in der Anschauung des auf Erden zu verwirklichenden Himmelreichs überwunden
und ausgeglichen ist, sondern in die Unterscheidung und den relativen Widerspruch
zwischeu dem Diesseits und Jenseits deö wirklichen Menschenlebens und seiner
Geschichte, in den Gegensatz von Gegenwart und Zukunft, von Wirklichkeit und
Ideal, von Erscheinung und Begriff fallt im Sinn und Bewußtsein I esu die
eigenthümliche Entgegeustellnng dieser und jener Welt.--Die Grundidee der
christlichen Religion ist die messianische Idee, und deren ewiger Inhalt ... kein an¬
derer, als der Zug der Geschichte uach der Zukunft, die Perfectibilität und die fort¬
schreitende Entwickelung der Menschheit selbst. Nicht ans das gegebene Sein,
sondern auf el" höheres, das da sein soll, ans ein Werdendes, in Ewigkeit Fort¬
schreitendes, also nach der Zukunft drängt Alles hin. --- In der messianischen
Idee und kraft derselben ist das Christenthum das Streben nach dem Ideale
der Menschheit, das Ausopfern der Gegenwart für eine höhere, bessere Zukunft,
der Zukunft dürstende Volleuduugötrieb des Geistes der Menschheit; in der prak¬
tischen Energie der Messiasidee schließt das Christenthum Vergangenheit, Ge-
genwart und Zukunft in die Einheit der göttlichen Bestimmung des Menschenge¬
schlechts zusammen, das Ideal der Menschheit als ewig ersehnt, und wenn auch
in der Gegenwart momentan erreicht, doch erst in der Zukunft sich stets voll-



*) Oder die Grundidee deS ewigen Evangeliums. Von Dr. Ludwig Nocick. Leipzig,
Brockhaus.
Grcnzlwte". II. 1L50. 5Z
Das Mysterium des Christenthums*).



Die großen Erschütterungen des Jahres 48 haben die philosophischen Ten¬
denzen, die vor dem März die Bewegung zu leiten schienen, in den Hintergrund
gedrängt. Auch die Schule Hegel's ist vollständig zersprengt worden. Von den
Notabilitäten der Schule haben nur Wenige an den letzten .Kämpfen einen directen
Antheil genommen, und diese — so Rüge, Bischer, Michelet — meist im Sinne
deö extremen Radicalismus. Nur David Strauß hat auch diese Feuerprobe
überstanden.

Da wir in diesem Augenblick in der Lage sind, so viele vormärzliche Dinge
wiederkehren zu sehn, deren fernere Existenz man allgemein für unmöglich gehalten
hätte, so liegt es nahe, daß auch die Philosophie ihre alten Bestrebungen wieder
aufnimmt. Zunächst in Beziehung auf die Religion.

Der Verfasser der vorliegenden Schrift „hegt seit Jahren die Ueberzeugung,
daß die Religionsphilosophie ... vor Allem auch wieder zur Ap o lo g e til werden
müsse, um die Lebensfähigkeit des Christenthums auch für die Zukunft ... wissen¬
schaftlich zu erweisen." — Die ewige Grundidee des Evangeliums wird folgender¬
maßen construirt.

„Nicht in dem vermeintlichen Gegensatze zwischen Himmel und Erde, der ja
in der Anschauung des auf Erden zu verwirklichenden Himmelreichs überwunden
und ausgeglichen ist, sondern in die Unterscheidung und den relativen Widerspruch
zwischeu dem Diesseits und Jenseits deö wirklichen Menschenlebens und seiner
Geschichte, in den Gegensatz von Gegenwart und Zukunft, von Wirklichkeit und
Ideal, von Erscheinung und Begriff fallt im Sinn und Bewußtsein I esu die
eigenthümliche Entgegeustellnng dieser und jener Welt.--Die Grundidee der
christlichen Religion ist die messianische Idee, und deren ewiger Inhalt ... kein an¬
derer, als der Zug der Geschichte uach der Zukunft, die Perfectibilität und die fort¬
schreitende Entwickelung der Menschheit selbst. Nicht ans das gegebene Sein,
sondern auf el» höheres, das da sein soll, ans ein Werdendes, in Ewigkeit Fort¬
schreitendes, also nach der Zukunft drängt Alles hin. —- In der messianischen
Idee und kraft derselben ist das Christenthum das Streben nach dem Ideale
der Menschheit, das Ausopfern der Gegenwart für eine höhere, bessere Zukunft,
der Zukunft dürstende Volleuduugötrieb des Geistes der Menschheit; in der prak¬
tischen Energie der Messiasidee schließt das Christenthum Vergangenheit, Ge-
genwart und Zukunft in die Einheit der göttlichen Bestimmung des Menschenge¬
schlechts zusammen, das Ideal der Menschheit als ewig ersehnt, und wenn auch
in der Gegenwart momentan erreicht, doch erst in der Zukunft sich stets voll-



*) Oder die Grundidee deS ewigen Evangeliums. Von Dr. Ludwig Nocick. Leipzig,
Brockhaus.
Grcnzlwte». II. 1L50. 5Z
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[0417] Das Mysterium des Christenthums*). Die großen Erschütterungen des Jahres 48 haben die philosophischen Ten¬ denzen, die vor dem März die Bewegung zu leiten schienen, in den Hintergrund gedrängt. Auch die Schule Hegel's ist vollständig zersprengt worden. Von den Notabilitäten der Schule haben nur Wenige an den letzten .Kämpfen einen directen Antheil genommen, und diese — so Rüge, Bischer, Michelet — meist im Sinne deö extremen Radicalismus. Nur David Strauß hat auch diese Feuerprobe überstanden. Da wir in diesem Augenblick in der Lage sind, so viele vormärzliche Dinge wiederkehren zu sehn, deren fernere Existenz man allgemein für unmöglich gehalten hätte, so liegt es nahe, daß auch die Philosophie ihre alten Bestrebungen wieder aufnimmt. Zunächst in Beziehung auf die Religion. Der Verfasser der vorliegenden Schrift „hegt seit Jahren die Ueberzeugung, daß die Religionsphilosophie ... vor Allem auch wieder zur Ap o lo g e til werden müsse, um die Lebensfähigkeit des Christenthums auch für die Zukunft ... wissen¬ schaftlich zu erweisen." — Die ewige Grundidee des Evangeliums wird folgender¬ maßen construirt. „Nicht in dem vermeintlichen Gegensatze zwischen Himmel und Erde, der ja in der Anschauung des auf Erden zu verwirklichenden Himmelreichs überwunden und ausgeglichen ist, sondern in die Unterscheidung und den relativen Widerspruch zwischeu dem Diesseits und Jenseits deö wirklichen Menschenlebens und seiner Geschichte, in den Gegensatz von Gegenwart und Zukunft, von Wirklichkeit und Ideal, von Erscheinung und Begriff fallt im Sinn und Bewußtsein I esu die eigenthümliche Entgegeustellnng dieser und jener Welt.--Die Grundidee der christlichen Religion ist die messianische Idee, und deren ewiger Inhalt ... kein an¬ derer, als der Zug der Geschichte uach der Zukunft, die Perfectibilität und die fort¬ schreitende Entwickelung der Menschheit selbst. Nicht ans das gegebene Sein, sondern auf el» höheres, das da sein soll, ans ein Werdendes, in Ewigkeit Fort¬ schreitendes, also nach der Zukunft drängt Alles hin. —- In der messianischen Idee und kraft derselben ist das Christenthum das Streben nach dem Ideale der Menschheit, das Ausopfern der Gegenwart für eine höhere, bessere Zukunft, der Zukunft dürstende Volleuduugötrieb des Geistes der Menschheit; in der prak¬ tischen Energie der Messiasidee schließt das Christenthum Vergangenheit, Ge- genwart und Zukunft in die Einheit der göttlichen Bestimmung des Menschenge¬ schlechts zusammen, das Ideal der Menschheit als ewig ersehnt, und wenn auch in der Gegenwart momentan erreicht, doch erst in der Zukunft sich stets voll- *) Oder die Grundidee deS ewigen Evangeliums. Von Dr. Ludwig Nocick. Leipzig, Brockhaus. Grcnzlwte». II. 1L50. 5Z

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/417>, abgerufen am 06.05.2024.