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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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Die Theaterbildung in Rußland und Polen.

Der Bühnengeschmack eines Volkes, die Stärke seiner productiven Gestal¬
tungskraft, die Entwickelungsgeschichte seiner populärsten Kunstgattimg, des Dra¬
mas, geben uus Aufschlüsse über Seiten seiner Individualität, die wir aus seiner
politischen Geschichte nicht immer mit derselben Genauigkeit zu erkennen ver¬
mögen. Die gemüthliche Anlage des Volkes tritt in seinen Beziehungen zur
darstellenden Kunst sehr ternies hervor und aus dein Wechselverkehr zwischen
Schaffenden und Genießenden, aus dem Publikum eines Theaterabends läßt sich
ein Schluß machen auf den Grad der Tüchtigkeit eines Volkes auch im Staate.
Freilich gilt es dabei, sowohl geschickt als vorsichtig zu sein.

In der Mitte des vorigen Jahrhunderts befanden sich außer den höfischen Kuust-
institnten zu Warschau im polnischen Reiche schon vier starke dramatische Gesell¬
schaften, von ächt polnischem Gepräge, welche in den vornehmsten Städten ihre
Kunst zeigten, und zwei davon leisteten so AnertennenSwcrthcs, daß sie die Ehre
hatten, bisweilen vor dem königlichen Hofe spielen zu müssen. Das Eigenthüm-
liche dieser Gesellschaften war, daß sie nie fremdländische Schöpfungen zur Dar¬
stellung brachten, sondern nur ihre eigenen, im buchstäblichen Sinne. Die Di-
rectoren derselben waren entweder selbst Dichter, oder hatten Seele und Geschäft
mit einem Dichter verbunden. Diesem folgten sie wie Wallenstein seinem Astro¬
logen. Auf seiue dramatische Kraft gründete sich das Unternehmen einer darstel¬
lenden Gesellschaft, und die Producte ihres Poeten waren es fast ausschließlich,
welche jede Gesellschaft zur Aufführung brachte. Unter sich pflegten die besseren
dieser Gesellschaften Contracte abzuschließen, nach welchen sie sich gegenseitig die
Productionen ihrer Poeten zur Benutzung überließen. Diese Beschränkung aus
die eigene Schöpfungskraft mochte zum Theil in dein Mangel an Verbindung
mit der fremdländischen Literatur, zum Theil in nationalem Selbstgefühl, zum Theil
auch darin ihren Grund haben, daß der polnische nationale Geschmack damals
mit dem der Deutschen, Franzosen und Engländer zu wenig verwandt war. Es
entwickelte sich in jenem Verhältniß aber anch eine poetische Schöpfungskraft,
welche ein acht nationales und gutes Theater von der Zukunft erwarten ließ. Selbst
jetzt, nachdem Revolutionen, Kriege und politische Pläne fremder Herrschaft die Bühne
bald zertrümmert, bald beschimpft haben, nachdem sich die Polen poetisch ebenso wie
politisch zu Satelliten französischer Bildung gemacht haben, gibt es als ehrwür¬
diges Andenken an jene alte Zeit noch einige Schanspielergesellschaften, welche den
guten alten gleichen, ihre" Poeten besitzen und nur seine eigenen, oder wenig¬
stens von ihm ein- und zugerichtete polnische Stücke zur Aufführung bringen.
Eine solche Gesellschaft, deren vornehmste Person Nichlawski heißt, befindet sich


Die Theaterbildung in Rußland und Polen.

Der Bühnengeschmack eines Volkes, die Stärke seiner productiven Gestal¬
tungskraft, die Entwickelungsgeschichte seiner populärsten Kunstgattimg, des Dra¬
mas, geben uus Aufschlüsse über Seiten seiner Individualität, die wir aus seiner
politischen Geschichte nicht immer mit derselben Genauigkeit zu erkennen ver¬
mögen. Die gemüthliche Anlage des Volkes tritt in seinen Beziehungen zur
darstellenden Kunst sehr ternies hervor und aus dein Wechselverkehr zwischen
Schaffenden und Genießenden, aus dem Publikum eines Theaterabends läßt sich
ein Schluß machen auf den Grad der Tüchtigkeit eines Volkes auch im Staate.
Freilich gilt es dabei, sowohl geschickt als vorsichtig zu sein.

In der Mitte des vorigen Jahrhunderts befanden sich außer den höfischen Kuust-
institnten zu Warschau im polnischen Reiche schon vier starke dramatische Gesell¬
schaften, von ächt polnischem Gepräge, welche in den vornehmsten Städten ihre
Kunst zeigten, und zwei davon leisteten so AnertennenSwcrthcs, daß sie die Ehre
hatten, bisweilen vor dem königlichen Hofe spielen zu müssen. Das Eigenthüm-
liche dieser Gesellschaften war, daß sie nie fremdländische Schöpfungen zur Dar¬
stellung brachten, sondern nur ihre eigenen, im buchstäblichen Sinne. Die Di-
rectoren derselben waren entweder selbst Dichter, oder hatten Seele und Geschäft
mit einem Dichter verbunden. Diesem folgten sie wie Wallenstein seinem Astro¬
logen. Auf seiue dramatische Kraft gründete sich das Unternehmen einer darstel¬
lenden Gesellschaft, und die Producte ihres Poeten waren es fast ausschließlich,
welche jede Gesellschaft zur Aufführung brachte. Unter sich pflegten die besseren
dieser Gesellschaften Contracte abzuschließen, nach welchen sie sich gegenseitig die
Productionen ihrer Poeten zur Benutzung überließen. Diese Beschränkung aus
die eigene Schöpfungskraft mochte zum Theil in dein Mangel an Verbindung
mit der fremdländischen Literatur, zum Theil in nationalem Selbstgefühl, zum Theil
auch darin ihren Grund haben, daß der polnische nationale Geschmack damals
mit dem der Deutschen, Franzosen und Engländer zu wenig verwandt war. Es
entwickelte sich in jenem Verhältniß aber anch eine poetische Schöpfungskraft,
welche ein acht nationales und gutes Theater von der Zukunft erwarten ließ. Selbst
jetzt, nachdem Revolutionen, Kriege und politische Pläne fremder Herrschaft die Bühne
bald zertrümmert, bald beschimpft haben, nachdem sich die Polen poetisch ebenso wie
politisch zu Satelliten französischer Bildung gemacht haben, gibt es als ehrwür¬
diges Andenken an jene alte Zeit noch einige Schanspielergesellschaften, welche den
guten alten gleichen, ihre» Poeten besitzen und nur seine eigenen, oder wenig¬
stens von ihm ein- und zugerichtete polnische Stücke zur Aufführung bringen.
Eine solche Gesellschaft, deren vornehmste Person Nichlawski heißt, befindet sich


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[0104] Die Theaterbildung in Rußland und Polen. Der Bühnengeschmack eines Volkes, die Stärke seiner productiven Gestal¬ tungskraft, die Entwickelungsgeschichte seiner populärsten Kunstgattimg, des Dra¬ mas, geben uus Aufschlüsse über Seiten seiner Individualität, die wir aus seiner politischen Geschichte nicht immer mit derselben Genauigkeit zu erkennen ver¬ mögen. Die gemüthliche Anlage des Volkes tritt in seinen Beziehungen zur darstellenden Kunst sehr ternies hervor und aus dein Wechselverkehr zwischen Schaffenden und Genießenden, aus dem Publikum eines Theaterabends läßt sich ein Schluß machen auf den Grad der Tüchtigkeit eines Volkes auch im Staate. Freilich gilt es dabei, sowohl geschickt als vorsichtig zu sein. In der Mitte des vorigen Jahrhunderts befanden sich außer den höfischen Kuust- institnten zu Warschau im polnischen Reiche schon vier starke dramatische Gesell¬ schaften, von ächt polnischem Gepräge, welche in den vornehmsten Städten ihre Kunst zeigten, und zwei davon leisteten so AnertennenSwcrthcs, daß sie die Ehre hatten, bisweilen vor dem königlichen Hofe spielen zu müssen. Das Eigenthüm- liche dieser Gesellschaften war, daß sie nie fremdländische Schöpfungen zur Dar¬ stellung brachten, sondern nur ihre eigenen, im buchstäblichen Sinne. Die Di- rectoren derselben waren entweder selbst Dichter, oder hatten Seele und Geschäft mit einem Dichter verbunden. Diesem folgten sie wie Wallenstein seinem Astro¬ logen. Auf seiue dramatische Kraft gründete sich das Unternehmen einer darstel¬ lenden Gesellschaft, und die Producte ihres Poeten waren es fast ausschließlich, welche jede Gesellschaft zur Aufführung brachte. Unter sich pflegten die besseren dieser Gesellschaften Contracte abzuschließen, nach welchen sie sich gegenseitig die Productionen ihrer Poeten zur Benutzung überließen. Diese Beschränkung aus die eigene Schöpfungskraft mochte zum Theil in dein Mangel an Verbindung mit der fremdländischen Literatur, zum Theil in nationalem Selbstgefühl, zum Theil auch darin ihren Grund haben, daß der polnische nationale Geschmack damals mit dem der Deutschen, Franzosen und Engländer zu wenig verwandt war. Es entwickelte sich in jenem Verhältniß aber anch eine poetische Schöpfungskraft, welche ein acht nationales und gutes Theater von der Zukunft erwarten ließ. Selbst jetzt, nachdem Revolutionen, Kriege und politische Pläne fremder Herrschaft die Bühne bald zertrümmert, bald beschimpft haben, nachdem sich die Polen poetisch ebenso wie politisch zu Satelliten französischer Bildung gemacht haben, gibt es als ehrwür¬ diges Andenken an jene alte Zeit noch einige Schanspielergesellschaften, welche den guten alten gleichen, ihre» Poeten besitzen und nur seine eigenen, oder wenig¬ stens von ihm ein- und zugerichtete polnische Stücke zur Aufführung bringen. Eine solche Gesellschaft, deren vornehmste Person Nichlawski heißt, befindet sich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/104>, abgerufen am 07.05.2024.