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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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Vom Annaberg in Oberschlesien.

Es war im Spätherbst des Jahres ^8, als ich mit einem Begleiter im offenen
Wagen bei dem heiligen Berg vorbei zu der Eisenbahn herabrollte, welche ans
dem langen Oderthal in den Distrikt der oberschlesischen Hüttenwerke führt. Ein
schneidend kalter Wind schnitt vom Berge dnrch die Kleider bis auf die Haut
und die Gegeud sah kahl und unheimlich aus, wie eine Stätte, ans welcher der
besorgte Landwirth Herr Sommer Alles fortgeschafft hat, um dem Feinde seines
Haushalts dem Winter nichts zu überlassen, was der Zerstörung Werth wäre. Wir
bogen um eine Waldecke, und Hollah! eine Anzahl brauner Gestalten umringte
plötzlich den Wagen und hielt in unverständigen Tönen kreischend die breitkrämpigen
ungarischen Hüte deu Reifenden vor. Es war eine Bande Zigeuner, dnrch das
Kriegsgetümmcl in Ungarn wahrscheinlich aus ihrem alten Neste aufgescheucht und
in das fremde Land getrieben. Unerhörte Gäste in dem wohldiscipliuirten Preußen,
aber das gesegnete Jahr 48 hatte auch hier die Polizei des flachen Landes nachsichtig
gemacht. Es war eine ganze Genossenschaft, die Alte fehlte nicht, eine hohe in
Sonne und Wetter vertrocknete Gestalt, sie allein blieb am Nasenrain stehen
und begnügte sich, die allgemeine Sehnsucht nach unfern Börsen dadurch anzu¬
deuten, daß sie ihren Stab wie beschwörend nach unserm Wagen ausstreckte.
Vier bis fünf Männer um uus herum, einige Weiber mit Kindern auf dem Rücken
dahinter und ein halb Dutzend kleine rundbäckige Bengel mit rabenschwarzen ver¬
worrenen Haar, barhäuptig und barfuß, zum Theil mit blanken Knieen und
blankem Gesäß, sprangen wie besessen um den Wagen herum, und die ganze
Bande Hände ausstreckend, schreiend und gesticulirend mit einer fanatischen Wuth,
welche eines größern Zwecks Werth gewesen wäre! Zwei der Männer hatten
Brand- und Hiebwunden und das Aussehen der ganzen würdigen Gesellschaft war
höchst kläglich und Mitleid erregend. Der Kutscher hieb in die Pferde, aber um¬
sonst, der Hause hing und lief um deu Wagen und spielte ungestört die Scene fort.
Am außerordentlichsten aber gebärdete sich ein kleiner Junge von etwa sechs Jahren,
der am Graben dicht neben uns fortlief, und dessen hübsche weichen Gestchtslinien


Grenzboten. III. I8S0. 21
Vom Annaberg in Oberschlesien.

Es war im Spätherbst des Jahres ^8, als ich mit einem Begleiter im offenen
Wagen bei dem heiligen Berg vorbei zu der Eisenbahn herabrollte, welche ans
dem langen Oderthal in den Distrikt der oberschlesischen Hüttenwerke führt. Ein
schneidend kalter Wind schnitt vom Berge dnrch die Kleider bis auf die Haut
und die Gegeud sah kahl und unheimlich aus, wie eine Stätte, ans welcher der
besorgte Landwirth Herr Sommer Alles fortgeschafft hat, um dem Feinde seines
Haushalts dem Winter nichts zu überlassen, was der Zerstörung Werth wäre. Wir
bogen um eine Waldecke, und Hollah! eine Anzahl brauner Gestalten umringte
plötzlich den Wagen und hielt in unverständigen Tönen kreischend die breitkrämpigen
ungarischen Hüte deu Reifenden vor. Es war eine Bande Zigeuner, dnrch das
Kriegsgetümmcl in Ungarn wahrscheinlich aus ihrem alten Neste aufgescheucht und
in das fremde Land getrieben. Unerhörte Gäste in dem wohldiscipliuirten Preußen,
aber das gesegnete Jahr 48 hatte auch hier die Polizei des flachen Landes nachsichtig
gemacht. Es war eine ganze Genossenschaft, die Alte fehlte nicht, eine hohe in
Sonne und Wetter vertrocknete Gestalt, sie allein blieb am Nasenrain stehen
und begnügte sich, die allgemeine Sehnsucht nach unfern Börsen dadurch anzu¬
deuten, daß sie ihren Stab wie beschwörend nach unserm Wagen ausstreckte.
Vier bis fünf Männer um uus herum, einige Weiber mit Kindern auf dem Rücken
dahinter und ein halb Dutzend kleine rundbäckige Bengel mit rabenschwarzen ver¬
worrenen Haar, barhäuptig und barfuß, zum Theil mit blanken Knieen und
blankem Gesäß, sprangen wie besessen um den Wagen herum, und die ganze
Bande Hände ausstreckend, schreiend und gesticulirend mit einer fanatischen Wuth,
welche eines größern Zwecks Werth gewesen wäre! Zwei der Männer hatten
Brand- und Hiebwunden und das Aussehen der ganzen würdigen Gesellschaft war
höchst kläglich und Mitleid erregend. Der Kutscher hieb in die Pferde, aber um¬
sonst, der Hause hing und lief um deu Wagen und spielte ungestört die Scene fort.
Am außerordentlichsten aber gebärdete sich ein kleiner Junge von etwa sechs Jahren,
der am Graben dicht neben uns fortlief, und dessen hübsche weichen Gestchtslinien


Grenzboten. III. I8S0. 21
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[0169] Vom Annaberg in Oberschlesien. Es war im Spätherbst des Jahres ^8, als ich mit einem Begleiter im offenen Wagen bei dem heiligen Berg vorbei zu der Eisenbahn herabrollte, welche ans dem langen Oderthal in den Distrikt der oberschlesischen Hüttenwerke führt. Ein schneidend kalter Wind schnitt vom Berge dnrch die Kleider bis auf die Haut und die Gegeud sah kahl und unheimlich aus, wie eine Stätte, ans welcher der besorgte Landwirth Herr Sommer Alles fortgeschafft hat, um dem Feinde seines Haushalts dem Winter nichts zu überlassen, was der Zerstörung Werth wäre. Wir bogen um eine Waldecke, und Hollah! eine Anzahl brauner Gestalten umringte plötzlich den Wagen und hielt in unverständigen Tönen kreischend die breitkrämpigen ungarischen Hüte deu Reifenden vor. Es war eine Bande Zigeuner, dnrch das Kriegsgetümmcl in Ungarn wahrscheinlich aus ihrem alten Neste aufgescheucht und in das fremde Land getrieben. Unerhörte Gäste in dem wohldiscipliuirten Preußen, aber das gesegnete Jahr 48 hatte auch hier die Polizei des flachen Landes nachsichtig gemacht. Es war eine ganze Genossenschaft, die Alte fehlte nicht, eine hohe in Sonne und Wetter vertrocknete Gestalt, sie allein blieb am Nasenrain stehen und begnügte sich, die allgemeine Sehnsucht nach unfern Börsen dadurch anzu¬ deuten, daß sie ihren Stab wie beschwörend nach unserm Wagen ausstreckte. Vier bis fünf Männer um uus herum, einige Weiber mit Kindern auf dem Rücken dahinter und ein halb Dutzend kleine rundbäckige Bengel mit rabenschwarzen ver¬ worrenen Haar, barhäuptig und barfuß, zum Theil mit blanken Knieen und blankem Gesäß, sprangen wie besessen um den Wagen herum, und die ganze Bande Hände ausstreckend, schreiend und gesticulirend mit einer fanatischen Wuth, welche eines größern Zwecks Werth gewesen wäre! Zwei der Männer hatten Brand- und Hiebwunden und das Aussehen der ganzen würdigen Gesellschaft war höchst kläglich und Mitleid erregend. Der Kutscher hieb in die Pferde, aber um¬ sonst, der Hause hing und lief um deu Wagen und spielte ungestört die Scene fort. Am außerordentlichsten aber gebärdete sich ein kleiner Junge von etwa sechs Jahren, der am Graben dicht neben uns fortlief, und dessen hübsche weichen Gestchtslinien Grenzboten. III. I8S0. 21

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/169>, abgerufen am 07.05.2024.